In der internationalen Politik gibt es eine alte Weisheit: „Staaten haben keine Freunde, sie haben Interessen.“ Niemand der sich ernsthaft mit Wirtschaft, Diplomatie oder Geschichte beschäftigt stellt den Wahrheitsgehalt dieser Aussage in Frage. China muss den Zugang zu Rohstoffen sichern, deshalb investiert es in Afrika. Russland muss seine europäische Grenze sichern, darum unterstützt es die Separatisten in der Ukraine. Die USA müssen ihre Fähigkeit zur globalen Einsatzfähigkeit aufrechterhalten, darum leisten sie sich ein enormes Militärbudget und halten trotz aller Drohungen an ihren Bündnissen fest.
Was genau die zu verfolgenden Interessen sind, wird dabei zwar von der Politik still entschieden, die Diskussion über sie findet aber öffentlich statt. Unzählige Journalisten, Forscher aber auch Politiker äußern sich zu diesem Thema und teilen ihre Gedanken. Die Existenz von nationalen Interessen gilt dabei keineswegs als anrüchig, genauso wenig wie der
intellektuelle Umgang mit ihnen.
In der Bundesrepublik Deutschland ist dies nicht der Fall. Wie fast alle Begriffe die den Bestandsteil „national“ enthalten, sind sie in der breiten Öffentlichkeit verpönt und werden mit Nichtbeachtung gestraft. Gerade Journalisten und Politiker betonen viel lieber ihre Überzeugung als „Europäer“ und die Hoffnung auf ein baldiges „aufgehen in Europa“. Ein Anerkennen von Deutschlands geopolitischen Interessen passt nicht zu diesem Selbstbild. Erwecken sie doch Vorstellungen von Konflikt, Machtpolitik, Selbstbehauptung; Konzepten mit denen man sich in einer
globalisierten Welt nicht beschäftigen möchte. Es ist angenehmer und mit weit weniger politischem Risiko behaftet, wenn man sich vollständig auf supranationale Organisationen verlässt. Auf diese Weise kann man dem Vorwurf entgehen „nationale Politik“ zu machen.
Wenn man trotzdem außenpolitisch tätig wird, so wird dies in der Regel, als Intervention für Menschenrechte umschrieben. Am Hindukusch bewacht die Bundeswehr Mädchenschulen, in Mali wird Weltkulturerbe vor Al Kaida gerettet und die politischen Stiftungen sind weltweit dabei die Zivilgesellschaft zu stärken. Gleichberechtigung, Kultur, Demokratie! Dagegen kann man einfach nichts haben!
Aber selbst, wenn man durch ignorieren und verleugnen das Auseinandersetzen mit der Geopolitik und das Definieren von eigenen Zielen vermeiden kann, die nationalen Interessen bleiben bestehen. Es wird immer Entwicklungen geben, die für den eigenen Staat ein günstiges oder ungünstiges Resultat haben können. Mit dem Einsatz der eigenen Mittel das bessere Ergebnis zu erreichen wäre eine der Grundpflichten des Staates. Es wird immer andere Akteure mit Interessen geben, die dem eigenen Staatsvolk schaden würden. Ihre
Pläne zu vereiteln ist ebenfalls eine der Grundpflichten des Staates. Es wird immer Situationen geben in denen die moralische Entscheidung die schädliche ist. Sie trotzdem zu fällen ist eine Pflichtverletzung erster Ordnung.
Ebenso wie Monster und andere Kinderschrecken verschwinden sie nicht einfach, wenn man die eigenen Augen vor ihnen verschließt. Unwissenheit und Ignoranz verhindern nur, dass ihnen mit der angemessenen Ernsthaftigkeit begegnet wird.
Ein gutes Beispiel wäre die Rolle des Freihandels. Seit der Reichsgründung 1871 war Deutschland immer eine Nation, die sich im großen Maße auf den globalen Austausch von Waren stützte. Die hohe Leistungsfähigkeit der eigenen Fabriken ermöglichte es aus Rohstoffen Produkte von hoher Qualität zu fertigen. Sowohl der Ursprung der Ressourcen, als auch der Absatzmarkt für die Endprodukte war häufig das Ausland. Im Verlauf der Zeit stellte sich die komplette Wirtschaft auf diesen Ablauf ein, der Titel des Exportweltmeisters war die Folge davon.
Das bedeutet aber auch eine Abhängigkeit der kompletten deutschen Wirtschaftsordnung vom freien Fluss der Waren. Sollte dieser aus irgendwelchen Gründen nicht mehr gegeben sein würde praktisch die gesamte heimische Industrie zusammenbrechen. Die Folgen wären nicht nur eine explodierende Arbeitslosigkeit und wegbrechende Steuereinnahmen in den Gewerbezweigen die direkt exportieren, sondern ein Dominoeffekt der weitere Unternehmen vernichten würde. Im besten Fall würde es nur zu einer schweren Depression kommen, im schlimmsten Fall könnte die Existenz des deutschen Staates an sich infrage gestellt werden. Der Erhalt des Freihandels ist somit eine existenzielle Aufgabe der deutschen Außenpolitik, zumindest sollte er das sein.
In der Öffentlichkeit jedoch werden kaum Anstrengungen unternommen dieses Thema zu erläutern. Am ehesten wird es vom Bürger noch mit den Verhandlungen zu diversen Handelsabkommen in Verbindung gebracht. Statt als ein Garant für Wohlstand zu gelten bedeutet der globale Handel nun Chlorhühnchen und Hormonfleisch. Schnell wurde dabei Stimmen laut, die nicht nur gegen diese Handelserträge waren, sondern die Freiheit der Handelswege generell kritisierten; meist mit linksextremen Untertönen.
Ein anderes geopolitisches Thema ist die Wahl der eigenen Verbündeten. Die Bundesrepublik ist eng in die NATO eingebunden. Eine Situation, die ihre Vorteile hat. Die USA sind, als einzige verbleibende Supermacht, eine Kraft, die man besser auf seiner Seite hat als auf der des Gegners, der Zusammenhalt innerhalb der NATO ist weit größer als der innerhalb anderer Bündnisse, durch die Mitgliedschaft der meisten europäischen Länder erleichtert sie die militärische Sicherung des Landes und sie ist hilfreich bei der Sicherung der Handelswege.
Wenn man aber Fragt warum die BRD in der NATO ist, erhält man von den in den meisten Fällen einen Schwall von moralistischen Behauptungen: Dankbarkeit für die USA, die Verbreitung von Menschenrechten, westliche Wertegemeinschaft,… usw.
Obwohl vernünftige und objektive Erklärungen vorhanden sind, wird auf einer emotionalen, pseudo-ethischen Ebene geantwortet, die ein politisches Bündnis in eine mythische Schicksalsgemeinschaft verwandelt. Für die „Atlantiker“ hat das westliche Bündnis religiöse Dimensionen.
Gerechterweise muss man sagen, dass die Gegenseite sich genauso verhält. Russophile Kräfte, die sich in der äußersten Rechten genauso finden wie in der äußersten Linken, wollen sich vom Westen ab- und Russland zuwenden. Mit welcher Begründung? Der rücksichtslosen Machtpolitik der USA und der angeblichen Deutsch-Russischen Freundschaft! Man muss sich seine Verbündeten aus moralischen Gründen und nicht aus praktischen wählen. Und da die USA böse sind, muss ihr Konkurrent Russland gut sein. Dass der Kreml nicht weniger aggressiv ist als das Weiße Haus und dass die „Freundschaft“ meist einseitig zum Vorteil Russlands war, wird nicht beachtet.
Die Unfähigkeit zur ruhigen Analyse erstreckt sich selbst auf die Rolle des Militärs. Die beiden dominanten Positionen sind ein verlogener Interventionismus und ein kindischer Pazifismus.
Erstere verlangt den Einsatz der Bundeswehr für „humane Aktionen“. Tödliche Gewalt darf angewandt werden, jedoch nur zur humanitären Hilfe und zur Unterstützung der „Guten“. Eine Vorstellung, die zwangsläufig zu Heuchlerei führt.
Die Zweit betrachtet jede Form von Militär, Bewaffnung oder Gegenwehr als grundsätzlich böse. Die Armee muss komplett abgeschafft werden! Alle Waffenexporte sind zu verbieten;… Ach was, jede Form von Waffe muss gebannt werden! Denn nur wer sich komplett wehrlos macht, kann verhindern in einen Krieg verwickelt zu werden.
Es erinnert an von Clausewitz. Der festgestellt hatte, wie der Krieg eigentlich von den Verteidigern ausgeht. Ein Angreifer würde es bevorzugen seelenruhig in die unverteidigten Städte einzumarschieren…
Beide Ansichten kranken am selbstgerechten Moralismus der die deutsche Politik durchzieht. Gemeinsam sorgen sie dafür das die Bundeswehr heutzutage weniger zur wehren des Bundes geeignet ist, als zum graben des Brunnens oder ähnlicher Beschäftigungen. Die Sehnsucht der Deutschen danach zu den ethisch einwandfrei Guten zu gehören die Funktionsfähigkeit des Nationalstaates selbst.
Es ist Zeit zu akzeptieren, dass die Bundesrepublik kein kleiner bedeutungsloser Staat ist, sondern die ökonomische Macht und den Einfluss einer Großmacht besitzt. Man sollte sich dementsprechend verhalten. Die Benennung seine eigenen Interessen weiter zu verweigern und sich bei politischen Entscheidungen allein auf zweifelhafte Prinzipien der Ethik zu verlassen ist ein unredliches Verhalten, welches das Potenzial besitzt viel Schaden und nur wenig Gutes zu erzeugen. Die Öffnung der Grenzen von 2015 ist
ein geeignetes Beispiel.
Es wird nicht einfach sein eine breite Diskussion zu diesem Thema zu bewirken. Der wage Status quo ermöglicht es den politischen Akteuren nach eigenen Vorstellungen zu agieren, ohne dem Bürger Rechenschaft zu leisten. Aber dies ist nur ein weiteres Argument für ihre Notwendigkeit.
Das deutsche Volk muss sich darüber klar werden, welche geopolitischen Interessen es eigentlich hat, wie es sie verfolgen möchte und was dabei überhaupt möglich ist und was nicht. Nur, wenn dies geklärt wurde, ist es möglich sich selbst und allen Partnern gegenüber verlässlich zu agieren. Und das wäre eine wirklich gute Sache