Der Krieg in der Ukraine hat eine interessante Transformation bewirkt: In nur wenigen Tagen wurden ganze Heerscharen an Corona-Experten plötzlich Fachleute für die Themen internationale Beziehungen, Militärtechnik und Geopolitik. Woher sie dieses Wissen haben wird zwar nicht preisgegeben, doch sie allesamt scheinen recht selbstsicher dabei zu sein.

Wenn man es aber wirklich ernst meint, darf das Interesse an der Ukraine nur der erste Schritt bleiben. Denn es gibt eine ganze Reihe an weiteren Problemen und Entwicklung, die Auswirkungen auf die Weltpolitik haben können. Will man nicht erneut von einer plötzlichen Krise überrascht werden, sollte man diesen Ereignissen und Situationen zumindest etwas Aufmerksamkeit zukommen lassen.

Insbesondere Wirtschaftskrisen haben in verschiedenen Regionen der Welt zur wachsenden Instabilität und geopolitischen Risiko beigetragen. Dies bedeutet nicht, dass jedes Problem ins unermessliche wachsen wird und zu einer Katastrophe führt. Aber es besteht zumindest die Möglichkeit von negativen Konsequenzen und sie sind aufgrund der starken globalen Vernetzung in der Lage Auswirkungen auf andere Problemfelder zu haben.

Aus diesem Grund folgt nun eine Liste mit weniger beachteten Neuigkeiten, die aber alle geopolitisch relevant sind, sowie das Potenzial haben für die gesamte Welt von Bedeutung zu sein.

 

Geopolitik in China. Symbolbild

Geopolitik- China: Probleme im Innen und Außen

Fangen wir mit einem prominenten Kandidaten an, der Volksrepublik China. Peking hat mit einer Reihe von Problemen zu kämpfen, welche sowohl äußere als auch innere Ursachen haben. So ist der Fortschritt bei der, mit extrem großen Aufwand betriebenen, „Belt and Road“-Initiative ins Stocken geraten. Dieses Projekt sollte ursprünglich die Infrastruktur in verschiedenen Teilen der eurasischen Landmasse signifikant verbessern, um den Transport von chinesischen Waren in die Absatzmärkte zu erleichtern. Zu diesem Zweck wurden in vielen Ländern Baumaßnahmen finanziert und Kredite vergeben. Nicht nur konnte so der Zugang zu ihnen verbessert werden, sie wurden auch wirtschaftlich stärker an China gebunden.

Mittlerweile hat dieses Vorgehen aber zum Widerstand bei verschiedenen betroffenen Bevölkerungen geführt. Das chinesische Investment gilt nicht mehr als Chance für die eigene Wirtschaft, sondern immer mehr als imperialistische Einflussnahme. Weiter unten auf unserer Liste wird uns dieses Thema wieder begegnen, doch für den Moment ist es wichtig festzuhalten, dass die Wirtschafts- und Außenpolitik der Volksrepublik vor neuen Hürden steht.

Ein weiteres Problem ist das verstärkte Säbelrasseln Richtung Taiwan. Dass China diese Insel als Teil des eigenen Staatsgebiets beansprucht ist nichts Neues und es hat bereits in der Vergangenheit Versuche gegeben sie zu erobern. Durch das neu aufgeflammte Interesse an der Geopolitik ist die Bedeutung der abtrünnigen Insel jedoch wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Noch bis vor wenigen Monaten wurde Taiwan bestenfalls rhetorisch unterstützt, doch nun gilt es fast schon als fernöstliches Spiegelbild zur Ukraine. Insbesondere die Amerikaner sind in ihren Hilfen weit aktiver und engagierter geworden. Die neue Frage ist jetzt, ob diese verbesserte Beziehung ausreicht, um Peking von einem militärischen Vorgehen abzuschrecken, oder ob es als Provokation aufgefasst wird und es zu drastischen Maßnahmen greifen lässt. Entscheidender Faktor wird vermutlich sein, für wie ehrlich die amerikanischen Beistandsversprechen gehalten werden.

Eng mit diesem Konflikt verbunden ist die Unruhe auf den Salomonen. Durch eine Mischung aus wirtschaftlichen Versprechungen und direkte Beeinflussung, konnte die Regierung dieser pazifischen Inseln davon überzeugt werden, einer chinesischen Militärpräsenz zuzustimmen. Eine heikle Situation, denn es handelt sich um eine geopolitisch durchaus relevante Region. Die Salomonen kontrollieren den nördlichen Zugang vom Pazifik nach Australien. Sie bestimmen damit eine strategisch und wirtschaftlich äußerst wichtige Route. Eine Eigenschaft, die bereits im Zweiten Weltkrieg bekannt war und zur bedeutenden Schlacht um Guadalcanal führte.

Insgesamt gibt es hierauf zwei verschiedene Reaktionen: Die Bevölkerung der Salomonen ist zumindest zu einem erheblichen Teil nicht zufrieden mit dem Verhalten der Regierung und der Annäherung an die Volksrepublik. Es kam in den letzten Wochen immer wieder zu Protesten und Unruhen gegen die Präsenz. Dabei wurden auch verschiedene chinesische Unternehmen attackiert, denen man vorwirft, gegenüber Einheimischen begünstigt zu werden.

Auf der anderen Seite verstärken die USA und Australien nicht nur die Zusammenarbeit untereinander, sondern nahmen erneuten Kontakt zu mehreren anderen Staaten in der Region auf. Ziel ist es, den eigenen Einfluss zu stärken und eine weitere Ausdehnung der chinesischen Sphäre zu blockieren. Neben dem Ausbau von Wirtschafthilfen wird auch eine engere militärlische Kooperation angestrebt.

Bei so vielen außenpolitischen Problemen sollten wir nicht vergessen, dass Covid immer noch eine Pandemie ist. Während der Rest der Welt durch die hochinfektiöse, aber im Verlauf milde Omikron-Variante einen großen Teil seiner Angst überwunden hat, versetzt er China in ein innenpolitisches Chaos. Das rigide und strenge Festhalten an einer „Zero-Covid“ Politik hat in Shanghai und einigen anderen Städten zu umfassenden und brutalen Lockdowns geführt. Diese beschädigten nicht nur in erheblichem Maße das Wirtschaftswachstum, sondern ließen Zweifel an der Kompetenz der Behörden und damit der Kommunistischen Partei Chinas laut werden. Von verschiedener Seite wird dabei die Mutmaßungen angestellt, dass diese Maßnahmen weniger medizinische als vielmehr politische Hintergründe haben.

Sie stehen in Zusammenhang mit einem Machtkampf zwischen Generalsekretär und Staatspräsident Xi Jinping und seinen innerparteilichen Gegnern. Beim 20. Parteitag im November 2022 wird erneut über das Amt des Generalsekretärs abgestimmt. Sollte es zu einem Versuch kommen, die Ära von Präsident Xi zu beenden, ist dieser Termin von entscheidener Bedeutung. Die Auseinandersetzung zwischen ihm und seinen politischen Gegner werden bis dahin an Intensität zunehmen und einen immer größeren Einfluss auf das politische Vorgehen der Volksrepublik haben. Dabei ist es noch ungewiss, welche der beiden Fraktionen im Herbst die Überhand gewinnen wird. Obwohl nicht mal ein Thema der Innenpolitik, sondern sogar nur der internen Parteipolitik, ist es dennoch eine der wichtigsten geopolitischen Entscheidungen, die in diesem Jahr anstehen.

 

Geopolitik und geopolitcs in Indien. Quad oder China.

Geopolitik- Indien: Osten oder Westen

Obwohl es fast ebenso groß ist wie China, erfährt Indien weit weniger Aufmerksamkeit. Zumindest im Moment hat es keine wirklich drängenden Probleme, doch das Ringen um weltpolitische Einflussmöglichkeiten und die eigene Positionierung hat an neuer Qualität gewonnen. Der unkundige Beobachter würde es nicht vermuten, aber es existiert in indischen Expertenkreisen eine heftige Debatte um das eigene geopolitische Vorgehen.

Die offizielle Position war über die Jahrzehnte hinweg das Bestehen auf Neutralität und einer größtmöglichen Selbstständigkeit. In der Realität war aber eine besondere Freundschaft zur Sowjetunion und später Russland für den Subkontinent prägend. Diese Beziehung wird jetzt von einigen Politikern und Publizisten infrage gestellt, was eine ausgesprochen aggressive Gegenreaktion zur Folge hatte.Indien befindet sich daher an einer Weggabel.

Einige Kräfte versuchen es für eine antiwestliche Allianz mit Russland und China zu gewinnen und auf diese Weise den globalen Einfluss der USA und Europas zurückzudrängen und die eigene Geltung zu vergrößern. Andere sind der Meinung, dass ein Bündnis mit dem eher schwachen Russland und dem Indien noch immer feindlich gesinnten China keinen Sinn ergeben würde, und es weit ergiebiger und sicherer ist, freundliche Verbindungen zum Westen zu pflegen. Große Hoffnungen werden dabei insbesondere in den Quadrilateral Security Dialogue (QSD oder Quad) mit Australien, Japan und den USA gesetzt, welcher Indien den Zugang zu amerikanischer Unterstützung und Technologie ermöglichen würde. Auf diese Weise würde es auch von der russischen Waffenindustrie, bis jetzt der Hauptlieferant für Neu-Delhi, unabhängig werden.

Welchen Ausgang diese Diskussion nehmen wird, ist noch offen, er wird die Weltpolitik der nächsten Jahrzehnte aber entscheidend beeinflussen.

 

Geopolitik- Pakistan: Anschläge und Regierungswechsel

Auch Indiens ewiger Hauptfeind Pakistan erlebt politische Unruhen. Wie bereits bei China erwähnt wurde, häuft sich der Widerstand gegen den wachsenden Einfluss der Volksrepublik. Eine besondere Qualität hat er mittlerweile in der pakistanischen Provinz Belutschistan erreicht, in der es bereits zu Angriffen und Selbstmordanschlägen gegen chinesische Vertreter gekommen ist. Die Region verfügt bereits seit Jahrzehnten über eine Unabhängigkeitsbewegung, die aber von der Zentralregierung aufs schärfste unterdrückt wird. Im Zuge von „Belt and Road“ Investitionen wurde diese Situation sogar noch verschlimmert, da weder von pakistanischer noch von chinesischer Seite Rücksicht auf die Einheimischen genommen wurde. Der Aufbau einer auf den Export und den Abbau der Bodenschätze ausgerichtete Verkehrsstruktur wird nicht als eine Möglichkeit zur Entwicklung, sondern als Ausbeutung des Landes zum Nutzen fremder Kräfte aufgefasst.

Diese Gewaltakte, welche meist auf die Balochistan Liberation Army (BLA) zurückgehen, sind für sich selbst genommen weniger geeignet überregionale Auswirkungen zu entfalten. Das Bündnis zwischen Pakistan und China ist zu eng und die wirtschaftlichen Interessen zu groß, um davon wirklich behindert zu werden. Sie zeigen aber eine wachsende Instabilität innerhalb der Islamischen Republik Pakistan.

Dass vor wenigen Wochen der amtierende Premierminister durch ein Misstrauensvotum gestürzt worden ist, unterstreicht diese Situation nur noch. Seine Anhänger lehnen dies natürlich ab und werfen der neuen Regierung vor, nur ein verlängerter Arm der im Land vorherrschenden Armee zu sein. Hinzu kommt eine andauernde Wirtschaftskrise, die mittlerweile sogar Auswirkungen auf die Versorgungslage im Land hat. Pakistan wird all diese Probleme überwinden müssen, um wieder zu einer inneren Stabilität zu finden.

 

Geopolitik- Sir Lanka: Wirtschaftskrise

Proteste und Ausnahmezustand treffen auch den Inselstaat Sir Lanka im Indischen Ozean. Der Krieg und vor allem die Jahre unter Corona haben die stark auf den Tourismus angewiesene Insel schwer getroffen. In mancher Hinsicht spiegelt es die pakistanische Situation. Eine lang andauernde Wirtschaftskrise behindert die Staatseinnahmen und belastet die Bevölkerung, während die früher als fortschrittlich gepriesenen Kredite aus dem „Belt and Road“ Projekt nun eine untragbare Belastung sind. Der Staat Sir Lanka ist bereits Zahlungsunfähigkeit und damit eigentlich in einem Staatsbankrott.

Die Verantwortung für diese Situation wird von der Bevölkerung der momentanen Regierung zugeschrieben. Forderungen nach deren Rücktritt sind es, welche zu verschiedenen Akten des Protestes geführt haben. Demonstrationen, Kundgebungen und mehrere Streiks erschüttern das Land. Es wurde sogar von der Menge versucht, das Parlament zu stürmen, was jedoch misslang und das Ausrufen des Ausnahmezustands zur Folge hatte.

Ein baldiges Ende dieser Unruhen ist nicht zu erwarten, denn auch hier haben die wirtschaftlichen Probleme zu einem Mangel an Lebensmitteln und Medikamenten, weit verbreiteten Stromausfälle und einer hohen Inflation geführt.

Geopolitik: Inflation der Türkei

Geopolitik- Türkei: Inflation

Massive Inflation ist auch in der Türkei ein Thema. Bereits seit mehreren Jahren fällt die türkische Lira immer weiter im Wert. Zumindest Teil des Problems ist die eigentümliche Ansicht von Präsident Erdogan, dass man die Aufblähung der Geldmenge (sprich Inflation) am besten durch niedrige Zinsen in den Griff bekommt. Genau das Gegenteil vom eigentlich empfohlen Vorgehen, wie jeder Text über das Thema mitteilen muss. Mittlerweile hat sie bereits eine Quote von 70 % erreicht, was zu einem extremen Verlust an Wohlstand und wirtschaftlichem Handlungsvermögen für die Bevölkerung führt.

Eine sehr bedenkliche Entwicklung, denn die Türkei ist unter Erdogan immer wieder durch militärische Interventionen und Drohgebärden aufgefallen. Sollte die wirtschaftliche Lage sich noch weiter verschlimmern, kann es passieren, dass sich die Verantwortlichen zu Ersatzhandlungen hinreißen lassen, um die Lage zumindest für sich selbst wieder unter Kontrolle zu bringen; wie dies aussehen würde, kann aufgrund der opportunistischen und wechselhaften Natur der Betreffenden noch nicht gesagt werden.

 

Geopolitik- Syrien, Jemen und Äthiopien: Krieg auf Eis

Währenddessen befinden sich Syrien, Jemen und Äthiopien noch immer im Bürgerkrieg. Alle drei Konflikte sind in den letzten Jahren immer weniger beachtet worden und können zumindest teilweise als eingefroren betrachtet werden. Dies bedeutet nicht, dass sich die Situation der Menschen in diesen Ländern verbessert hat, ganz im Gegenteil! Selbst wenn die direkte Gewalt reduziert wurde, wie etwa durch den Waffenstillstand im Jemen, ist die Versorgungslage immer noch katastrophal. Eine endgültige politische Lösung zeichnet sich bei keinem dieser Kriege wirklich ab. Und selbst wenn sie heute zu Ende kommen würden, wären ihre Folgen noch auf Jahre und Jahrzehnte zu spüren.

Ihr ökonomischer Fortschritt wurde zunichte gemacht, die Gesellschaft gespalten und eine große Menge and Extremisten hat in diesen Ländern eine neue Heimat und Basis gefunden. Von den diplomatischen Verwerfungen und Veränderungen in globalen Machtgefüge ganz zu schweigen.

 

Der Rest

Selbstverständlich ist diese Liste nicht mal ansatzweise vollständig. Die wenigsten Krisen werden von der Berichterstattung auch nur erwähnt und bleiben dadurch obskures Fachwissen, das nur Eingeweihten vorbehalten ist, … zumindest bis sie zu einem Katalysator für umfangreichere und folgenschwere Ereignisse werden.

Was zum Schluss relevant und was Störgeräusch ist, kann leider erst im Nachhinein sicher gesagt werden. Daher ist es wichtig seinen Blick so weit wie möglich zu haben, damit zumindest der Umfang einer Überraschung begrenzt werden kann. Ein Wissensvorsprung ermöglicht es, Gefahren richtig einzuordnen und untaugliche Lösungen bereits von Anfang an zu verhindern. Und selbst wenn man, wie so oft, nicht in der Lage ist etwas zu bewirken, so ist man wenigstens nicht auf Experten angewiesen, die ihr Wissen plötzlich über Nacht erhielten. Und das ist auch schon mal was wert!