Der folgende Text wurde uns vom „International Institute for Middle East and Balkan Studies (IFIMES)“ mit der freundlichen Bitte um Veröffentlichung zugesandt. Wir haben uns erlaubt, ihn ins Deutsche zu übersetzen.
Am 2. April 2023 finden in der Republik Bulgarien vorgezogene Parlamentswahlen statt, bei denen nach dem Verhältniswahlrecht mit geschlossenen Listen insgesamt 240 Abgeordnete der Bulgarischen Nationalversammlung gewählt werden. Es gibt insgesamt 31 Wahlkreise, aus denen je nach Größe des Wahlkreises zwischen 4 und 16 Vertreter gewählt werden. Es gibt eine 4% Hürde. Dies sind die fünften Wahlen in den letzten beiden Jahren, da es aufgrund der Ergebnisse der vorherigen Wahlen nicht möglich war, eine Regierung zu bilden.
Im Jahr 2016 verabschiedete das bulgarische Parlament ein Gesetz über die verpflichtende Teilnahme an den Wahlen mit dem Ziel, im Land die Legitimität der Vertreter zu erhöhen. Die vorgesehene Strafe für die Wähler, die ihre Pflicht zur Teilnahme an den Wahlen vernachlässigen, ist die Streichung aus dem Wählerverzeichnis. Die gestrichenen Wähler haben jedoch die Möglichkeit, wieder in das Wählerverzeichnis aufgenommen zu werden.
Dies löst allerdings nicht die Probleme.
Das Gesetz ist undemokratisch, da es impliziert, dass jeder Wähler entscheiden kann, ob er oder sie an den Wahlen teilnehmen möchte oder nicht. Wähler dürfen nicht gezwungen werden zu wählen oder sanktioniert werden, wenn sie nicht wählen. Dies ist daher ein Indikator für die Missachtung der Demokratie sowie des undemokratischen Geistes in Sofia.
Bulgarische Diaspora
Bulgarien hat eine große Diaspora, die traditionell nicht an den Wahlen teilnimmt. Da keine genauen Aufzeichnungen vorliegen, wird geschätzt, dass sie zwischen 2-2,5 Millionen Bürgern umfasst. Zum Beispiel gibt es in der Türkei etwa 700.000 bulgarische Türken. Es gibt 300.000 Bulgaren, die in Griechenland leben. Werden sie an den Wahlen teilnehmen? Die Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS), eine ethnische Partei der bulgarischen Türken, versucht, so viele von ihnen wie möglich zur Teilnahme an den Wahlen zu mobilisieren.
Die Parteien
Der Hauptkonflikt wird zwischen der Bewegung „Wir setzen den Wandel fort – Demokratisches Bulgarien“ (PP-DB) unter der Führung von Kiril Petkov, Asen Vasilev und Hristo Ivanov sowie der GERB unter der Führung von Bojko Borisov ausgetragen. Die Revival-Partei unter der Führung von Kostadin Kostadinov und die Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS), liegen etwa gleichweit zurück. Die Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) unter der Führung von Korneliya Ninova wird vermutlich ebenfalls in das Parlament einziehen. Es wird erwartet, dass die Partei Bulgarisches Aufstehen, die Bulgarische Linke Partei und die „Dort gibt es solche Menschen“-Partei (ITN) von Slavi Trifonov, werden vorraussichtlich auch die Wahlhürde nehmen.
Tiefe Frustration in der bulgarischen Gesellschaft
Nach dem Zweiten Weltkrieg fiel Bulgarien unter die Zwangsherrschaft der UdSSR. Es wurde aus seiner Entwicklung geworfen und verlor Generationen an Potential, was in der bulgarischen Gesellschaft tiefe Frustration auslöste. So ist die politische Polarisierung zwischen dem bulgarischen Präsidenten Rumen Radev und dem Präsidenten der Bürger für europäische Entwicklung Bulgariens (GERB) Bojko Borisov ist immer noch dominant.
Borisov wird vorgeworfen, während der Dekade seiner Herrschaft ein autoritäres Modell der Staatsführung etabliert zu haben, welches direkt mit den Interessen eines engen Kreises von Oligarchen um ihn verbunden ist. Präsident Radev betonte oft, dass die „Mafia“ Borisovs Regierung und die politisierte Justiz im Land kontrolliert.
Insgesamt glaubt man, dass Radev Russland zugeneigt ist, während Borisov ein Favorit von Angela Merkel war. Als Ergebnis einer solchen internationalen politischen Ausrichtung war er auch positiv gegenüber Donald Trump eingestellt.
Borisov ist auch mit den Führern der Visegrád-Gruppe (Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei) verbunden, insbesondere mit dem ungarischen Premierminister Viktor Orbán (Fidesz/EVP). Ein weiteres unvermeidliches Element in Borisovs politischem Mosaik ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (AKP), mit dem er enge Beziehungen entwickelt hat. Angela Merkel (CDU/EVP) half Borisov bei der Gründung seiner GERB/EVP-Partei.
Borisov versuchte sogar – nach dem Vorbild der vorwiegend katholischen Visegrád-Gruppe eine „Quadrilaterale“ zu gründen; einen Zusammenschluss von Staaten mit vorwiegend orthodoxer Bevölkerung, der neben Bulgarien auch Rumänien, Griechenland und Serbien umfassen würde.
Die internationale Stellung Bulgariens
Die Republik Bulgarien ist ein Land, das von zahlreichen Problemen belastet ist. In diesem am wenigsten entwickelten EU-Mitgliedsland leben die Bürger am Rande der Armut. Die Wirtschaft ist ineffektiv, die finanziellen Ressourcen sind begrenzt und größtenteils bereits erschöpft. Ein starkes Element der Oligarchie, zu der etwa 3.000 Personen gehören, wurde etabliert und ist nun in Clankämpfen um die Verteilung begrenzter finanzieller Ressourcen und die Umverteilung von Macht, Eigentum und Verträgen verwickelt.
Das Geschäfts- und Finanzkapital im Land wird von mehreren supereichen Tycoons kontrolliert. Tatsächlich laufen die meisten öffentlichen Ausschreibungen und Mittel aus EU-Fonds durch sie. Kriminalität und Korruption sind allgegenwärtig und haben sich zur vorherrschenden „sozialen Technologie“ in der Verwaltung öffentlicher Mittel sowie in allen öffentlichen Bereichen entwickelt. Die Gesetze selbst schaffen Bedingungen für korrupte Praktiken, und Korruption ist zur sozialen Norm geworden.
Die Nato Ostgrenze
Bulgarien versucht, ein neues Gleichgewicht zwischen seinen Verpflichtungen gegenüber der NATO und den traditionellen Sympathien für Russland zu finden. Als NATO-Mitglied ist Bulgarien für eine 354 Kilometer lange Ostgrenze der NATO-Allianz verantwortlich. Die Grenze zum Schwarzen Meer liegt weniger als 500 Kilometer von der Krim entfernt und grenzt direkt an das Gebiet, das von der russischen Schwarzmeerflotte und der russischen Luftwaffe kontrolliert wird. Da Bulgarien verpflichtet ist, russische Militäraktivitäten am Schwarzen Meer zu kontrollieren, versucht es, das richtige Gleichgewicht in seinen Beziehungen zu den beiden Seiten zu finden. Die russische Invasion in der Ukraine hat die Tiefe der Beziehungen offenbart, die Bulgaren zu Russland haben. In letzter Zeit hat Bulgarien erneut Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland gefordert, ohne zu wissen, wessen Interessen es dabei vertritt.
Bindungen zu Russland
Emotionale Bindungen zu Russland sind tief in der bulgarischen Gesellschaft verwurzelt. Die historischen und kulturellen Verbindungen mit Russland und die Sympathien für Russland stehen im Widerspruch zur durch die Medien verbreiteten Angst, dass Bulgarien leicht in eine militärische Konfrontation am Schwarzen Meer gezogen werden könnte. Der russische Präsident Wladimir Putin hatte erklärt, dass Russland und Bulgarien historisch enge Beziehungen genossen haben und dass Russland seine Beziehungen zu Bulgarien „auf allen Ebenen“ weiterentwickeln werde.
Im Wesentlichen sind es aber nur zwei „Ebenen“:
Eine ist das Projekt „South Stream“, welches ein wichtiges Instrument der russischen Energie- und Außenpolitik ist.
Die andere „Ebene“ ist der Versuch Russlands, Bulgarien zu nutzen, um das Verhältnis zwischen der EU und der NATO zu beeinflussen, um beide Organisationen hinsichtlich der Sanktionen und der Sicherheitspolitik zu spalten; was ihm teilweise bereits gelungen ist. Deshalb ist Bulgarien ein geeigneter Boden für die Durchführung von „geheimen Aktivitäten und Operationen“, was dadurch belegt werden kann, dass einer der wichtigsten Posten des russischen Geheimdienstes in der Region in Sofia liegt. Denn Russland hat zahlreiche Unterstützer unter bulgarischen politischen Eliten und Bürgern.
Aufgrund seiner geopolitischen Lage sowie seiner engen spirituellen und kulturellen Verwandschaft und Verbindung zu Russland wurde Bulgarien „eingeladen“, als Vermittler zu agieren und den aktuellen Konflikt zwischen Russland und dem Westen zu mildern. Die Mehrheit der Bulgaren unterstützt eine solche Rolle des Staates. Die meisten Politiker verstehen jedoch, dass es für ein kleines Land wie Bulgarien, das am Rande der Armut steht, vollkommen unrealistisch ist, sich plötzlich als wichtiger Friedensstifter auf der internationalen Bühne zu positionieren. Bulgarien ist in dieser Frage jedoch weiterhin gespalten.
Analysten warnen davor, dass die russischen Sicherheits- und Geheimdienste tief in das System Bulgariens involviert sind, was die Sicherheit der NATO untergräbt. Aus diesem Grund wird Bulgarien teilweise als „russisches Trojanisches Pferd“ in der Allianz bezeichnet. Daher kann die Einbeziehung Bulgariens in den Austausch hochgradig vertraulicher Informationen ein Risiko für die NATO darstellen.
Bulgarien zwischen Berlin und Moskau
Der Sieg von Joseph Biden in den USA führte zu tiefgreifenden Veränderungen in den Beziehungen zu Boris‘ Verbündeten und insbesondere zur Visegrád-Gruppe, Putin und Erdogan. Ein weiterer erschwerender Umstand ist das Ausscheiden von Bundeskanzlerin Merkel aus dem Amt. Man darf nicht vergessen, dass Bulgarien ein Nettoempfänger von EU-Fonds ist, was bedeutet, dass es auf Kosten anderer EU-Mitglieder lebt (es ist nicht Teil des Schengen-Raums oder der Eurozone).
Das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) sollte seine Untersuchungen ausweiten, da es begründete Verdachtsmomente gibt, dass das Geld der EU-Steuerzahler in Bulgarien nicht für vorgesehene Zwecke ausgegeben wurde. Das „Portemonnaie“ Bulgariens befindet sich in Brüssel, während sein Herz in Moskau ist. Das Vertrauen in Bulgarien innerhalb der NATO ist erschüttert, weil Bulgarien immer noch in den „Armen“ Russlands ist. Die Situation in Bulgarien wäre wahrscheinlich anders, wenn der Staat rechtzeitig eine Säuberung von der Mitglieder des kommunistischen Regimes durchgeführt hätte. Denn diese waren ein integraler Bestandteil des sowjetischen Kontroll- und Einflusssystems.
Das Problem beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Zeit der Sowjetunion und des Kalten Krieges. Die starken Beziehungen zwischen Moskau und Sofia reichen bis in die Zeit der Gründung des modernen Staates Bulgarien zurück. Bulgarien hätte nämlich als Staat (nur 100 km von Istanbul entfernt) niemals seine Unabhängigkeit erlangt, wenn nicht die russische Armee es 1878 buchstäblich befreit hätte, als der berühmte Friedensvertrag von San Stefano unterzeichnet wurde. Unter russischem Einfluss war die Gründung des Fürstentums Bulgarien bis zum Ohridsee und Thessaloniki im Süden vorgesehen. Die große Alexander-Newski-Kathedrale, die über der Stadt Sofia thront, wurde zu Ehren der russisch-bulgarischen Freundschaft erbaut. Daher ist es eher unwahrscheinlich, dass diese jahrhundertelange Beziehung gebrochen wird.
Experten glauben, dass Bulgarien weiter zwischen Berlin und Moskau balancieren wird, immer bemüht die Stabilität so gut wie möglich aufrechtzuerhalten.
IFIMES – Das Internationale Institut für Nahost- und Balkanstudien (IFIMES) aus Ljubljana, Slowenien, hat seit 2018 einen besonderen beratenden Status beim Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) der UN und ist Herausgeber der internationalen wissenschaftlichen Zeitschrift „European Perspectives“.
Kontakt: ifimes@ifimes.org
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