Der russische Angriff auf die Ukraine hat eine hektische Betriebsamkeit in den Redaktionen, Think-Tanks und Instituten hervorgerufen. Prognosen über das Vorgehen der russischen Armee, Klagen über das Verhalten Putins und Kritik an dem Vorgehen in den letzten Wochen. Gerade der letzte Punkt ist wichtig, greift aber zu kurz. Die momentane Situation ist das Ergebnis von Fehlern, die teilweise schon drei Jahrzehnte zurückliegen. Sie ist das Ergebnis von Unstetigkeit, permanent schwankenden Interessen. Aber sie ist auch das Ergebnis von Inkompetenz, Eitelkeit und kindischer Selbstdarstellung.
USA-Russland: Partner, Freund oder Feind
Die problematische Beziehung zwischen den USA und Russland nahm bereits in den Trümmern des Zweiten Weltkrieges ihren Anfang. Die Roosevelt-Administration war mit der Absicht in den Krieg gegangen, eine neue Weltordnung zu errichten, bei der die Souveränität der einzelnen Staaten zugunsten der Vereinten Nationen zurücktreten sollte. Die, russisch dominierte, Sowjetunion sollte gemeinsam mit den USA als Garant und Beschützer dieser Ordnung auftreten. Josef Stalin hatte andere Pläne. Innerhalb von nur wenigen Jahren waren sämtliche europäische Staaten östlich der Elbe fest in der Hand des Kommunismus und unter fast kompletter Kontrolle der Sowjets.
US-Präsident Truman, der auf Roosevelt gefolgt war, sah sich gezwungen, seine Strategie zu überdenken. Statt einer vereinten Welt wurde nun das Containment, die Eindämmung, des „Ostblock“ betrieben. Rückblickend wissen wir, dass diese Strategie erfolgreich war. Zusammen mit der enttäuschten Hoffnung von 1945 legte sie aber die Grundlage für die weitere Entwicklung.
Der nächste Wendepunkt war der Zerfall der Sowjetunion und das Entstehen des modernen Russlands im Jahre 1992. Man könnte meinen, dass die USA sich über den Untergang der einzigen konkurrierenden Supermacht gefreut hätten, doch dem war nicht so. Vielmehr macht sich in der damaligen Bush-Administration eine Verunsicherung und Angst breit, denn man befürchtete der Aufgabe als alleiniger „Weltpolizist“ nicht gewachsen zu sein. Tatsächlich hatte man versucht, das Auseinanderbrechen der Union zu verhindern und sie, wenn auch in geschwächter Form und ohne ihre europäischen Vasallen, als stabilisierenden Faktor im eurasischen Raum zu erhalten. Gleichzeitig gab es aber auch Stimmen, die den alten Feind noch weiterhin als gefährlich betrachteten und ihn weiter schwächen wollten.
Das Resultat dieser divergenten Meinungen war der komplette Verlust einer einheitlichen strategischen Ausrichtung. Auf der einen Seite gab es Überlegungen, Russland nicht nur als Freund zu behandeln, sondern auch als Verbündeten mit in die NATO aufzunehmen. Dem Land sollte in der Entwicklung zu einer Demokratie mit Marktwirtschaft und offener Gesellschaft geholfen werden, damit es einen positiven Einfluss auf die neue Weltordnung nehmen kann. Auf der anderen Seite wurde verlangt, es weiter zu schwächen und von der Macht abzudrängen. In dieser, neokonservativen Lesart, war Moskau vor allem ein potenzieller Konkurrent auf dem eurasischen Kontinent. Eine mögliche Gefahr, welche man so stark schwächen müsste wie möglich. Sei es durch eine Osterweiterung der NATO, die Wirtschaft oder sonstige Methoden. Zwischen diesen Polen gab es auch weitere Meinungen, bei denen in der Regel Russland nicht als möglicher Verbündeter gesehen, aber auch kein aggressives Vorgehen verfolgt wurde.
Mit anderen Worten, die strategische Planung war konfus bis nicht existent. Somit war auch das Vorgehen seit den neunziger Jahren uneinheitlich. Es wurde nichts unternommen, um es zu einem Partner zu machen. Es wurde nichts unternommen, um es nachhaltig zu schwächen. Man trieb die Osterweiterung von EU und NATO voran, um die strategische Situation von Moskau zu verschlechtern und man erlaubte westlichen Firmen von den chaotischen Zuständen zu profitieren, die nach dem Zerfall des Ostblocks das Land beherrschten.
Aber zu selben Zeit wurde es versäumt, Europa Alternativen zu russischen Energievorkommen zur Verfügung zu stellen. Eigene Sanktion unterlief man dabei, in dem man selbst Erdöl von Russland bezog. Als es Zeichen für eine Annäherung zwischen Weißrussland und dem Westen gab, wurden diese zunichtegemacht, weil man Proteste gegen die Regierung unterstützte; als Folge wandte sich Minsk wieder vollständig dem östlichen Nachbarn zu. Durch eine missglückte Politik im Nahen Osten ermöglichte man russische Intervention in Syrien und Libyen, die zu Profilierung und Machterweiterung genutzt wurden.
Kurzum man wandelte auf einem schlecht beratenen Mittelweg, der weder einen neuen Freund gewann noch einen alten Feind isolierte. Man provozierte genug, um als Aggressor wahrgenommen zu werden und man half genug, um eine Rückkehr zu alten imperialen Ambitionen zu erlauben. Das schlechteste aus beiden Welten.
USA-EU: Verbündeter oder Konkurrent
Ähnlich chaotisch ist das Verhalten gegenüber der Europäischen Union. Offiziell ist die europäische Vereinigung ein wichtiger Baustein der angestrebten Zukunft. Ein Kontinent, der seine Ressourcen und seinen Einfluss für eine freiheitliche, demokratische Welt einsetzt, in der die Prinzipien des Völkerrechts von allen respektiert werden. Statt einer Reihe kleinerer Verbündeter, eine weitere Supermacht als Partner. Immerhin hatte nicht Henry Kissinger gefragt „Wen rufe ich denn an, wenn ich Europa anrufen will?“
Man könnte annehmen, dass die USA die Vereinigung Europas weiter vorantreiben würden, um ihm die Handlungsfähigkeit zu geben, die es braucht, um Verantwortung zu übernehmen. Aber warum bezeichnete der ehemalige Präsident Donald Trump die EU wiederholt als „Gegner“? Antwort: Weil er genauso ehrlich wie vorlaut ist.
Ebenso wie Russland und China ist auch die EU ein potenzieller Konkurrent für Amerika. Dies wird unter anderem in der Wirtschaftspolitik deutlich. Obwohl sich beide Seiten als Förderer des Freihandels bezeichnen, behindern sie regelmäßig den wirtschaftlichen Austausch mit dem anderen, sei es durch Industrievorgaben, rechtliche Bestimmungen oder Schutzzölle; vom Pick-up Truck bis zum Chlorhühnchen. Bei der Energiepolitik wird dieser Gegensatz sogar noch kritischer. Sowohl der Irak als auch der Iran zogen den Zorn Amerikas auf sich, als sie anfingen ihr Öl gegen Euro zu verkaufen.
Nicht Rubel, nicht Renminbi, nicht Dinar, Euro.
Eine wirklich handlungsfähige EU würde eher bald als später den Status als alleinige Supermacht bedrohen. Um sich selbst Energievorkommen zu sichern, würde der Petrodollar-Standard beendet werden, mit nicht abzusehenden Auswirkungen auf die Stabilität der US-Währung und die Staatsfinanzen. Militärische Interventionen der EU würden die Rolle als „Weltpolizisten“ beschädigen und könnten Ländern zugutekommen, die von Washington abgelehnt werden. Am schwersten würde aber wiegen, dass die USA nicht mehr als „Führer der freien Welt“ auftreten könnten. Es gäbe im eigenen ideologischen Lager einen Gegenentwurf, der vermutlich angesehener und beliebter als die eigene Position ist. Eine deutliche Parallele zum Sino-Sowjetischen Bruch, der dem Kalten Krieg eine neue Dimension und Wende gegeben hatte.
Aus diesem Grund haben es die USA unterlassen, die europäische Integration wirklich zu unterstützen. Staaten, die bei der Vereinigung nur halbherzig waren und vor allem ihren Eigeninteressen folgten, waren keinerlei Druck ausgesetzt. In einigen Fällen wurde sogar eine besondere Beziehung zu diesen Staaten beschworen, um diese als eigene Fürsprecher in Europa zu gewinnen und ein einheitliches Vorgehen der EU zu erschweren. Insbesondere das Vereinigte Königreich und Polen sind hier zu nennen. Beim ersteren führte diese Vorstellung sogar zum Austritt aus dem Verbund.
Statt einem Partner für die globale Politik hat man nun eine halbfertige Versammlung von Ländern. Ohne nennenswerte Auswirkung und gerade genug Vereinheitlichung, um den Unwillen der eigenen Bevölkerung zu wecken. Ein Gebilde, welches Politiker abwechselnd als Sündenbock, Vorwand und Entschuldigung verwenden dürfen.
USA-China: Wichtigster Gegenspieler oder Nebenschauplatz
Seit das Abendland von der Existenz Chinas erfahren hat, war es fasziniert und besorgt.
Die Römer wussten um den Ursprung der Seide in einem mächtigen Land. Die Händler der Renaissance brachten Kostbarkeiten und Neuigkeiten aus der Ming Dynastie und die Erzählungen über die meritokratische Beamtenprüfung, erweckten die Bewunderung von Gottfried Leibniz. Im Zeitalter des Imperialismus griff die Sorge über den Aufstieg Chinas zur überlegenden Weltmacht um sich; und vermochte alle Großmächte zu vereinen, um den Boxeraufstand niederzuschlagen. Mit anderen Worten: Das Potenzial Chinas war schon immer vorhanden und wurde anerkannt.
Der Weg zu seiner heutigen Position begann unter Mao und Nixon. Nach dem Sieg der Kommunisten im Bürgerkrieg war China ein Verbündeter der Sowjets. Allerdings kehrte sich dies nach dem Tode Stalins ins genaue Gegenteil um. Mao war nicht bereit, den Führungsanspruch Moskaus weiter anzuerkennen und führte das Land lieber in die Isolation, als sich zu arrangieren. Aus seiner Sicht war Moskau zu weich und kompromissbereit geworden. Es trieb nicht mehr die Revolution weiter voran, sondern verwandelte sich selbst in eine korrupte Bourgeoisie. Dass es gerade zwischen ihm und dem strikt antikommunistischen Richard Nixon zu einer umfangreichen Verständigung und Kooperation kommen sollte, ist einer der großen Witze der Geschichte.
Für den US-Präsidenten und seinen pragmatischen Außenminister, Henry Kissinger, war der Schritt ausgesprochen sinnvoll. Mit China gewann man die Möglichkeit, die andere Supermacht direkt unter Druck zu setzen und ihren Einfluss in den weniger entwickelten Ländern zu begrenzen. Die Volksrepublik war zu dieser Zeit ein größtenteils agrarisches Land, durch den großen Sprung nach vorne und die Kulturrevolution, intern zerrissen und wirtschaftlich unterentwickelt.
Dies alles sollte sich durch die Reformen von Deng Xiaoping entscheidend ändern. Mit Hilfe einer besonnenen und rücksichtslosen Kombination von wirtschaftlicher Liberalisierung und politischer Repression gelang es China zu modernisieren, das BIP massiv zu steigern, und wieder als weltpolitischer Akteur in Erscheinung zu treten. Man war zu einem weiteren eurasischen Herausforderer geworden.
Und wieder stellte sich den USA die gleiche Frage: Als globalen Partner einbinden oder eindämmen. Gerechterweise muss man hier aber zugeben, dass es nicht ein sprunghaftes Wechseln zwischen den Positionen war, welches zu Problemen führte. Die Entfremdung zwischen Washington und Peking wurde vor allem durch das immer fordernde Auftreten der Volkspartei hervorgerufen. Ganz ohne Fehler sind die Amerikaner dennoch nicht. Zwar wird schon seit Jahrzehnten von einer „strategischen Wende nach Asien“ gesprochen, bedeutende Aktionen blieben aber aus. Weder wurde eine Art „asiatische NATO“ erschaffen, noch wurde die Widerstandsfähigkeit von Taiwan verbessert. Vereinzelte Versuche in den letzten Jahren den wirtschaftlichen Druck zu erhöhen wurden ebenfalls nur halbherzig durchgeführt, weiterhin fließen große Mengen Kapital und technischen Know-how in den Fernen Osten. Es drängt sich eigentlich der Verdacht auf, die USA würden China nicht wirklich ernst nehmen.
Das Ergebnis ist eine verfahrene Situation, die einige unangenehme Parallelen zu dem geopolitischen Szenario aus George Orwells Dystopie „1984“ aufweist. Die drei Großmächte Amerika, Russland und China sind in einer Dreiecksbeziehung gefangen. Keiner der drei mag oder traut den anderen. Zwar gibt es Ansätze zu einer Kooperation mit jeweils einem Partner, um den übrig gebliebenen zu übervorteilen, deren Umfang ist aber sehr begrenzt und keine würde für den anderen ein Risiko eingehen.
Russland hat sich durch sein eigenes Verhalten endgültig gegen die USA gestellt, der Preis ist aber eine immer größer werdende Abhängigkeit von China. Die Volksrepublik nutzt diese Gelegenheit, Zugang zu den Ressourcen Sibiriens zu bekommen und die eigene Einflusssphäre zu erweitern. Dabei blieb man aber flexibel genug, im Zweifelsfall gegen beide Konkurrenten vorgehen zu können.
Amerika hat es in den vergangenen Jahrzehnten versäumt Russland für eine Kooperation gegen China zu gewinnen und wir dürfen annehmen, dass die Gelegenheit hierfür vergangen ist. Eventuell wäre es möglich Peking zu einem Vorgehen gegen Russland zu bewegen, der Preis hierfür wäre aber ein Rückzug aus dem ostasiatischen Theater. Ein Preis, der es nicht wert sein wird.
Russland: Ehemalige Supermacht
Russland hat schon eine interessante Kombination an Stärken und Schwächen. Es hat einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat: Was es zu einer der Vetomächte macht, deren Einfluss die Richtung der globalen Politik vorgeben kann. Sein Militär ist groß und zu Einsätzen in entfernten Regionen fähig: Eine Tatsache, die uns allen schmerzlich in Erinnerung gerufen worden ist. Das massive Nuklearwaffenarsenal muss separat betrachtet werden. Es ist das unmittelbarste Erbe der Zeit als Supermacht. Nur die USA haben vergleichbare Kapazitäten; nur diese beiden Staaten besitzen die sogenannte Overkill-Kapazität, die Möglichkeit den Feind gleich mehrfach komplett zu vernichten. Russland ist militärisch der wahre und unbestrittene Nachfolger der Sowjetunion.
Während dessen ist seine Wirtschaft deutlich kleiner als die Italiens. Die BIPs Kanadas, Südkoreas und Spaniens sind in derselben Größenordnung. Respektable Länder, denen aber heutzutage niemand ernsthaft Großmacht-, geschweige den Supermachtambitionen nachsagt. Ihre Bevölkerung ist aber geringer, was die ökonomische Malaise Russlands nur noch deutlicher macht.
Tatsächlich krankt Russland an einem ungesunden Widerspruch zwischen eigenem Anspruch und der Wirklichkeit. Moskau möchte mit aller Kraft an der alten Rolle hängen bleiben. Nicht nur wegen der Zeit als globale Macht, Sowjetunion. Sondern auch wegen der Tradition des Heiligen Russlands. Jahrhunderte lang hatte man seine Grenzen und seinen Machtbereich ausgedehnt, bis er von der Ostsee an den Pazifik reichte. Man war die vorherrschende Großmacht in Osteuropa; der natürliche Beschützer aller orthodoxen Christen und später aller Slawen. Man hatte dem revolutionären Frankreich und dem Dritten Reich widerstanden und sie im Feld bezwungen. Der Zar hatte seine siegreiche Armee nach Paris geführt, Stalin seine nach Korea geschickt. Dies alles sollte nun vorbei sein? Über 400 Jahre russische Mühen, Opfer, Leiden und Anstrengungen waren umsonst? Nein, dies kann man nicht zulassen!
Es ist keine unbekannte oder auch nur ungewöhnliche Reaktion, eher ist es die Regel. Frankreich, England und Österreich waren auch eins Großmächte. Doch ihre einstige Macht ist zum Großteil vergangen. Um den Schmerz etwas zu lindern, versuchen sie zumindest die alte Rolle zu simulieren. England und Frankreich mit ihren alten Kolonien, zu denen man eine spezielle Beziehung pflegt. Ersteres gefällt sich daneben als einer von Amerikas besten Freunden und trösten sich mit der Bedeutung Londons als Finanzzentrum. Letzteres feiert hemmungslos die eigene Kultur und Sprache, während es verstohlen genießt, der einflussstärkste Staat in der EU zu sein. Wien muss sich damit zufriedengeben, als Sprecher für die anderen Staaten der ehemaligen Donaumonarchie zu fungieren. Doch sie alle haben etwas gemeinsam: Ihre Ersatzhandlungen übersteigen nicht ihre Mittel und Fähigkeiten. Für Russland gilt dies nicht.
Tatsächlich ist seine Lage im Inneren ausgesprochen prekär. Die Russländische Föderation, so der genaue Name des Staats, ist aller nationalistischen Propaganda und orthodoxer Selbstdarstellung zum Trotz ethnisch extrem gespalten. Es wird davon ausgegangen, dass 13 bis 15 Prozent der russländischen Gesamtbevölkerung aus Moslems besteht. Wie diese genau zu Moskau stehen, unterscheidet sich erheblich, je nach Region. Doch hat dieser religiöse Unterschied in den letzten dreißig Jahren zu zwei Kriegen und einer andauernden Welle an Terroranschlägen und Konflikten im Kaukasus geführt. Nur durch die Installation des extrem brutalen und rücksichtslosen Kadyrow-Regimes in Tschetschenien konnte dem Chaos Einhalt geboten werden.
Währenddessen nimmt die Anzahl der Chinesen in Fernost immer weiter zu. Die östlichste Region der Föderation um den Pazifikhafen Wladiwostok gehörte bis Mitte des 19. Jahrhunderts zu China. Ein historischer Anspruch, den Peking jederzeit wieder in Erinnerung rufen kann. Dass dieses Gebiet riesige Mengen an noch unerschlossenen Rohstoffen enthält, stellt daher mehr einen Nachteil als einen Vorteil dar. Bereits jetzt ist der ferne Osten stärker von der chinesischen als von der russischen Wirtschaft abhängig, eine politische Umorientierung ist im Bereich des Möglichen.
Insgesamt hat die russländische Gesellschaft eine ganze Generation der Stagnation hinter sich. Die älteren Bürger werden mit den bewehrten Klängen der Sowjetnostalgie an die guten alten Zeiten erinnert. Erinnerungen und Appelle an die alte Größe sichern ihre Loyalität. Währenddessen sucht der liberale Teil der Nachgeborenen seine eigene Zukunft. Das Mittel der Wahl ist dabei immer häufiger die Emigration; der Überfall auf die Ukraine hat erneut tausende zu dieser Entscheidung getrieben. Dabei sollte man jedoch nicht glauben, dass die Gründe für die Auswanderung ausschließlich politischer Natur sind. Viel häufiger ist es der schleichende wirtschaftliche Niedergang, welcher als Hauptursache zu benennen ist. Das Russland von heute ist zu großen Teilen deindustrialisiert und macht seinen Gewinn mit dem Verkauf von Energie und anderen Bodenschätzen. Dieser Schwerpunkt würde einer unterentwickelten Nation oder einem Schwellenland besser zu Gesicht stehen als einer ehemaligen Supermacht, die behauptet ein Gegenentwurf zum Westen sein zu können.
Ein resigniertes und müdes Weiterschleppen; Armut und Mangel, versteckt hinter einer nur semi-prunkvollen Fassade aus Sowjetbeton und Falschgold. Es ist eine Perspektive, die nicht einmal der eigenen Bevölkerung wirklich zusagt, wie viel weniger muss sie auf Menschen von der Ukraine bis Kasachstan wirken? Andere Staaten des ehemaligen Ostens haben sich weiterentwickelt. Insbesondere die europäischen Länder gleichen in vielen Belangen denen des „alten Westens“. In einigen Fällen übertreffen sie ihn sogar! Warum also bei Moskau bleiben, wenn man es Estland oder der Tschechei gleichtun könnte?
Russland-Osteuropa: Unschöne Vergangenheit
Die Geschichte zwischen den Ländern Osteuropas und Russland ist keine schöne. Moskau mag noch so häufig vom „nahen Ausland“ sprechen, sie selber möchten so weit wie möglich von ihm entfernt sein.
Seit der Geburt des russischen Reichs aus dem Schoß des Fürstentums Moskau gibt es permanent Konflikte mit seinen Nachbarn. Die Stadt Nowgorod wurde zerstört, das Khanat von Kazan annektiert. Estland wurde nach vielen Kriegen den Schweden entrissen. Die einst freien Kosaken der Ukraine und der Wolga-Ebene wurden unterworfen. Kaukasus und Krim mussten von den Osmanen erkämpft werden.
Es wäre ungerecht, Russland als den alleinigen Aggressor zu benennen. Seine größten Rivalen waren genauso imperialistisch und gewalttätig wie es selbst. Insbesondere die Osmanen und die polnisch-litauische Union unterdrückten die kleineren Völker mit dem gleichen Maß an Verachtung und Gewalt, wie die Macht aus dem Osten. Doch sie waren bis zum 19. Jahrhundert alle besiegt worden, der russische Zar war der Herrscher über diese Länder, nicht der König oder Sultan.
Dabei verhinderte das autoritäre, auf Kontrolle und Bestrafung ausgelegte, System einen Ausgleich und die Assimilation der kleineren Völker. Als 1917 das Zarenreich zerfiel, nutzten sie daher die Gelegenheit, ihre Unabhängigkeit zu erklären.
Die Tatsache, dass sie fast alle ab 1939 wieder unter die Gewalt, des nun sowjetischen Russlands fielen, bestätigte nur ihre Ängste. Man wurde als westlicher Landbesitz betrachtet, nicht als wirkliche Nationen. Territorien, die besetzt werden konnten, um einen Puffer um die wichtigeren Kernregionen zu bilden. Nicht potenzielle Wirtschafts- oder Kulturzentren, sondern Aufmarschgebiet für die Machtprojektion nach Westeuropa. Umstände, unter denen man die heutige Begeisterung für NATO und EU, gut verstehen kann.
Eine Orientierung oder Loyalität zu Russland gibt es nicht, weil des nichts Positives gebracht hat zu seiner Einflusssphäre zu gehören. Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte der Stagnation und der Unterdrückung sind ein absurd hoher Preis für das zweifelhafte Privileg Teil des russischen Traums zu sein. Egal ob es sich dabei um den vom „Heiligen Russland“, von der „Sowjetischen Weltrevolution“ oder von „Eurasien“ handelt.
Russland-Ukraine: Brüder kann man sich nicht aussuchen
In gewisser Weise leidet die Ukraine darunter, Russland so ähnlich zu sein. Ihre Sprache ist weit enger mit dem Russischen verwandt als Polnisch oder die Sprachen des Baltikums. Bei der Religion folgt die gesamte Ukraine der orthodoxen Form, selbst der Teil, der eigentlich katholisch ist. Die Ukraine ist auch das Land, in dem sich die östlichen Slawen dem christlichen Glauben zuwandten. Damals in der Zeit des Kiewer Rus, von dem Russland seinen Namen hat.
Aus russischer Sicht ist es damit das Ursprungsland der eigenen Geschichte und Identität. Ein integraler Teil der eigenen Nation, welcher zwar eine Zeitlang abhandengekommen und unter fremden Einfluss war, doch immer noch unzertrennbar zum Mutterland gehörte. In der Vorstellung gab es keine Ukrainer, sondern nur den ukrainischen Teil des „Dreieinigen Russischen Volks“, dem er bestimmt war, mit seinen Weißrussischen und Russischen Brüdern verbunden zu sein.
Diese Erzählung war es, die den Zaren berechtigte, sein Reich bis zum Schwarzen Meer auszudehnen, mit der die Sowjets die Niederwerfung der Unabhängigkeitsbewegungen begründeten; und die dem Kreml erlaubte, Kiew als willenlosen Vasallen zu sehen. Der eigenständige Staat Ukraine ist aus Sicht Moskaus nur ein Fehler der Geschichte.
Hier sehen wir auch den Kern für die massive Einflussnahme und Propaganda, die gegen Kiew gerichtet wurde. Man vertraute darauf, die gleichen Emotionen und Bindungen, mit denen die russische Bevölkerung ruhig gehalten werden kann, auch in der Ukraine wecken zu können. Insbesondere andauernde Betonung der gemeinsamen Geschichte sollte die Trennlinie zwischen beiden Nationen erodieren und verwischen. Ein sehr plumpes Verfahren, denn nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatten sich hier bereits andere Interpretationen und Ansichten verbreitet. Statt Russland als Miterben der alten Rus zu sehen, setzte man sie mit den Mongolen gleich. Die Kosaken von der Schwarzmeerküste werden im modernen Russland vor allem als loyaler Soldaten des Zaren, als Beschützer des Reichs wahrgenommen; in der Ukraine feiert man vor allem ihre Aufsässigkeit und unbändiges Freiheitsstreben. Die eine Seite feiert Stalins Sowjetunion als den heldenhaften Bezwinger des Dritten Reichs, die andere erinnert sich an die Millionen Verhungerten und Ermordeten von Holodomor und rotem Terror. Dort ist Stepan Bandera ein Verräter, hier ein Held.
Statt die erwünschte Annäherung und Einigung zu erzielen, verschärfte die Dauerpropaganda nur die Trennung. Gleichzeitig zeigten die anderen Staaten Osteuropas, insbesondere das ehemals sowjetische Baltikum, welche Entwicklungen im Lebensstandard möglich waren, die sich den USA und Europa zuwandten. Das einzige Gegenargument, welches Moskau daraufhin einfiel, war es, den Westen als dekadent und schwul zu bezeichnen.
Aber auch das Verhalten der Ukraine, vornehmlich nach der Maidan-Revolution 2014, war weder klug noch vorausschauend. Man war so wild darauf, die eigene Selbstständigkeit zu betonen und sich von jeglichen russischen Altlasten zu trennen, dass man sich auf einen aggressiven Konfrontationskurs begab, der kein gutes Ende nehmen konnte.
So verständlich der Zorn über die Annexion der Krim und die Besetzung des Donbasses ist, man hätte dennoch mehr Besonnenheit an den Tag legen können und müssen. Durch das fortlaufende Gerede über eine mögliche NATO-Mitgliedschaft versetzte man die politische Kaste des weit größeren Nachbarn in Unruhe. Bestrebungen, die Bedeutung der russischen Sprache in der Ukraine zu reduzieren und den kulturellen Einfluss zu beschneiden, spielt den Scharfmacher in die Hände.
Gleichzeitig hätte einem selbst klar sein müssen, dass der Schutz und die Hilfe des atlantischen Bündnisses bestenfalls indirekt erfolgen konnte. Die Folge war ein massives Überschätzen des eigenen Abschreckungspotenzials und der Grenze des Möglichen. Wir werden niemals wissen können, ob dieser Konflikt vermeidbar gewesen wäre, doch Kiew hat durch sein Auftreten nichts unternommen, um die Situation zu entschärfen.
Polen: Der Traum von Intermarium
Ein weiteres Problem ist die Rolle Polens. Es ist unleugbar einer der größten und einflussreichsten Staaten Osteuropas, dennoch leidet es unter einer gefährlichen Mischung aus Rachsucht und Minderwertigkeitsgefühl. Mit aggressivem Auftreten, rücksichtslosen Forderungen und einer ultranationalistischen Politik versucht es sich Geltung zu verschaffen. Beherrscht wird es dabei von dem Gefühl, um Großmachtstatuts und Bedeutung betrogen worden zu sein.
War man in der Union mit Litauen noch im 17. Jahrhundert eine Großmacht gewesen, kamen die Karten Europas im 19. Jahrhundert ohne das Land aus. Statt sich nun mit den Fehlern der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, beschuldigt man lieber die nachfolgenden Großmächte sich unrechtmäßig auf Kosten des armen polnischen Volkes bereichert zu haben.
Egal wie die wirtschaftlichen, kulturellen und vor allem politischen Beziehungen wirklich sind, in der eigenen Mythologie sind Deutschland und Russland die ewigen Feinde Polens, die es zu überwinden gilt. Gleichzeitig soll das goldene Zeitalter wieder belebt werden und man selbst zur neuen Vorherrschaft in Osteuropa gelangen. „Zwischeneuropa“, „Intermarium“, oder auch „Visegrád-Gruppe“ Ziel ist es einen von Warschau dominierten Einschlussraum vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer zu bilden.
Zu diesem Zweck wird eine heftige Lobbyistentätigkeit in Washington betrieben, um eine mögliche Verständigung mit Russland zu verhindern. Im Gegensatz zur Ukraine kann man sich dabei auf die Sicherheit als NATO-Angehöriger und EU-Staat verlassen. Mit für sich selbst begrenztem Risiko wird die Lage weiter angeheizt und eskaliert und versucht den Einfluss Moskaus durch den eigenen zu ersetzen. Man kann fast schon sagen, dass Warschau von den USA als eine Art Statthalter der Ostgrenze eingesetzt werden möchte. Ein privilegierter Verbündeter mit einer besonderen Beziehung zur Supermacht. Und hier schließt sich auch der Kreis zum Auftreten der Vereinigten Staaten, das solches Vorgehen zumindest im Bereich des möglichen gerückt hat.
Jedoch fehlt es hier ebenfalls an Stärke. Wer auf die Erlaubnis und Unterstützung einer größeren Macht angewiesen ist, kann kein Hegemon sein. Weder die wirtschaftlichen noch die militärischen Mittel Polens reicht aus, um selbst tragbar zu sein, und kulturelle Attraktivität ist überhaupt nicht vorhanden. Vielmehr ist man nichts weiter als ein Störenfried, der andere die Kosten für den eigenen Größenwahn zahlen lassen möchte.
Deutschland: Der große Nordkanton
Das letzte hier untersuchte Versagen, soll das der Bundesrepublik Deutschland sein. Seit ihrer Gründung wurde ihr Verhalten immer mehr durch eine Kultivierung von politischer Unreife geprägt. Das Vorgehen der Bonner Republik war noch von dem Versuch einer Realpolitik geprägt; so lässt es die postmoderne Berliner Republik an jeder Perspektive und Verantwortungsbewusstsein mangeln. Die politische Führungsschicht folgt lieber kurzfristigen Trends und populären Hysterien, statt einen fundierten Kurs einzuschlagen. Nationale Interessen werden nicht nur vernachlässigt, sondern nicht einmal definiert! Sogar die Diskussion darüber wird klein gehalten und tabuisiert. Die deutsche Politik der Gegenwart ist der Versuch, eine pazifistische Persiflage der Schweiz zu sein.
Eine Einschätzung, die sich auch durch die hektische Aktivität und vollmundigen Versprechungen nach dem russischen Überfall nicht geändert hat. Nein, es wurde im schockierenden Masse klargemacht, wie sehr Deutschland seine sicherheitspolitischen Kapazitäten und außenpolitischen Fähigkeiten in den letzten Jahrzehnten verrotten ließ. Ein Land mit dem Potenzial zu den mächtigsten Staaten Europas und sogar der Erde gezählt zu werden, ist außerstande ein paar versprochene Waffen zu liefern. Währenddessen spielten seine Politiker Diplomat und geben Pressekonferenzen ohne Resonanz und Bedeutung.
Statt sich in einer pseudo-neutralen Untätigkeit zu verstecken, hätte man selbst eine gestaltende Rolle in Mitteleuropa einnehmen müssen. Was nicht bedeutet, die wirtschaftliche Kooperation mit Russland ganz sein zu lassen, sondern vielmehr die ökonomische mit der sicherheitspolitischen Komponente zu verbinden. Wäre man selbst die Sicherheitsmacht, könnte man als wirklicher Verhandlungspartner auftreten statt nur aufgeregt den amerikanischen Vorgaben zu folgen.
Aber das möchte man nicht. Man gefällt sich viel zu sehr in der Rolle des modernen Menschen. Ein moralisch überlegenes Wesen, das alle anderen nur durch die eigene Vorbildfunktion zur Erlösung bringen kann, selbst wenn einem niemand wirklich folgt.
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