Die einzige Möglichkeit für Deutschland, seine historischen Hemmungen zu überwinden und seiner Nachkriegsentwicklung treu zu bleiben, ist Veränderung. Eine neue Geopolitik für Deutschland wird benötigt

Bundeskanzler Olaf Scholz leitete am 27. Februar vor dem Bundestag eine neue Sichtweise der Bundesregierung auf die Geopolitik und seine Rolle in ihr ein. Am Tag zuvor hatte Berlin noch nie dagewesene G7-Sanktionen gegen die russische Zentralbank und den Ausschluss vieler anderer russischer Banken aus dem SWIFT-Finanznachrichtensystem beschlossen.

Weltwirtschaft und Energiepolitik

Für einen Exportweltmeister, dessen Erfolg von einer offenen und freien Weltwirtschaft abhängt, waren diese Schritte schockierend. Die Bundesrepublik nun weiß, dass Länder wie Russland ihre Wirtschaft als geopolitische Waffe einsetzen, hat es keine andere Wahl, als entsprechend zu reagieren. Außerdem sind diese wirtschaftlichen Maßnahmen so hart, dass sie leicht russische Vergeltungsmaßnahmen auslösen könnten. Maßnahmen, welche die europäischen Volkswirtschaften am härtesten treffen. Es sind Schritte, die noch zu Beginn des Jahres undenkbar gewesen sind.

Doch Scholz beließ es nicht bei diesen Worten. Er erklärte auch, dass Deutschland Waffen an die Ukraine liefern werde. Er sprach davon, dass Deutschland seine Energiepolitik überdenken müsse, um seine Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern. Und er kündigte an, 100 Milliarden Euro in die Bundeswehr zu investieren, die Verteidigungsausgaben im Grundgesetz zu verankern und in den nächsten Jahren mehr als 2 Prozent des deutschen BIP für die Verteidigung auszugeben. All diese Maßnahmen brechen mit den historischen Reflexen Deutschlands, zusammengenommen kommen sie einer Revolution gleich.

Alte Ziele brauchen eine neue Geopolitik

Viele außerhalb Deutschlands – und in der Berliner Außenpolitik – werden dies als eine längst überfällige Anpassung der deutschen Außenpolitik ansehen. In den letzten Wochen wurde Berlin oft als das schwächste Glied im westlichen Bündnis dargestellt. Deutschland wurde weithin als Trittbrettfahrer wahrgenommen, der sich hinter seiner Geschichte versteckt, um seine wirtschaftlichen Interessen zu fördern – und infolgedessen seinen Teil zur Wahrung der europäischen Sicherheit nicht beiträgt.

In der Tat waren diese Wahrnehmungen oft ungerechtfertigt. Berlins Handeln – vom Beharren auf einem Dialog mit Russland über die Weigerung, die Ukraine mit Waffen zu beliefern, bis hin zur akribischen Vorbereitung harter Sanktionen – hatte viele Ursachen. Für viele wurden als Motive Egoismus, Merkantilismus oder der Wunsch nach einem antiwestlichen Sonderweg ausgemacht, aber diese Behauptungen greifen zu kurz! Deutschlands Unbehagen gegenüber der Geopolitik rührt daher, dass das Land keine Geschichte hat, in der es Machtpolitik auf langfristige Weise betrieben hätte. Der Gedanke, Waffen an ein Land in einem Kriegsgebiet zu verkaufen und sich die Möglichkeit einer Entspannung offenzuhalten, ist ein Instinkt, der aus bitterer Erfahrung resultiert. Die deutsche politische Klasse bleibt dem Streben nach Frieden, der Aufrechterhaltung von Normen und Regeln und der Notwendigkeit der Diplomatie verpflichtet. Das Problem war, dass angesichts eines Gegners wie dem russischen Präsidenten Wladimir Putin viele deutsche Maßnahmen genau diese Ideale zu untergraben schienen. In diesem Sinne sollten Scholz‘ Schritte nicht als Abkehr von Deutschlands historischen Reflexen verstanden werden, sondern vielmehr als Versuch, diese in einer anderen Welt umzusetzen – oder, um es mit seiner klangvollen Formulierung zu sagen, eine Zeitenwende.

Neue Weltordnung

Die Kombination aus Putin und dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping hat eine Welt geschaffen, die es Deutschland unmöglich macht, seine traditionelle Haltung beizubehalten. Putins aggressives Bestreben, die europäische Sicherheitsordnung umzugestalten, und seine offensichtliche Bereitschaft, Energie zu einer Waffe zu machen, machen es unabdingbar, ihn abzuschrecken und Deutschlands Energiemix zu diversifizieren (in einer Weise, die nicht einmal auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges notwendig war).

Nach der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014, der Wahl Trumps und seinen wirtschaftlichen Drohungen gegen Deutschland sowie der Forderung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron nach einem Neustart der Europäischen Union forderten deutsche Außenpolitikexperten Berlin zunehmend auf, sich der neuen geopolitischen Realität zu stellen. Keines dieser Ereignisse war katastrophal genug, um die deutsche Öffentlichkeit davon zu überzeugen, die mit einem energischen geopolitischen Vorgehen verbundenen Risiken einzugehen. Doch an diesem Wochenende gingen hunderttausende Deutsche in Berlin auf die Straße, um nicht nur für den Frieden zu demonstrieren, sondern auch um ihre Regierung zu einem harten Vorgehen gegen Putin aufzufordern. Einige der Schilder, die sie hochhielten, lauteten: „Ich bin bereit, für den Frieden zu frieren“.

Und solange die Öffentlichkeit ihre Meinung nicht änderte, fühlte sich keine Regierung moralisch befugt, einen Politikwechsel vorzunehmen. Unter der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel betonten die Konservativen die Bedeutung der NATO-Lastenteilung und des 2-Prozent-Ziels (sogar in einer Koalition mit den Liberalen in der Freien Demokratischen Partei). Dennoch stagnierten die deutschen Verteidigungsausgaben und gingen zeitweise sogar in absoluten Zahlen zurück.

Ein Wandel in der Geopolitik?

In der vergangenen Woche sah sich Scholz unter enormem Druck von europäischen Ländern und den Vereinigten Staaten, seine Haltung zu Nord Stream 2, SWIFT und dem Verkauf von Waffen an die Ukraine zu ändern. Anstatt schrittweise Zugeständnisse zu machen, wie es Merkel während der Eurokrise tat, nutzte er den externen und internen Druck, um einen grundlegenden Wandel in der Außenpolitik seines Landes herbeizuführen. Und in seiner Rede, in der er diesen Wandel ankündigte, legte er auch einen übergreifenden strategischen Rahmen fest, um ihn der deutschen Öffentlichkeit zu erklären. Ähnlich wie er als Finanzminister zu Beginn der Covid-19-Krise Deutschlands heilige Kühe in der europäischen Schuldenpolitik geschlachtet hat.

So wie es 1972 eines konservativen Präsidenten bedurfte, um die US-Politik gegenüber dem kommunistischen China zu revolutionieren, so wird es eines sozialdemokratischen Kanzlers – unterstützt von einem grünen Außenminister – bedürfen, um das deutsche Militär zu modernisieren. Der konservative Bundeskanzler Helmut Kohl entschied sich nicht dafür, das deutsche Dogma über die Anwendung von Gewalt zu revidieren, um den Völkermord in Jugoslawien zu stoppen. Und es waren deutsche Politiker der Mitte-Links-Bewegung, die während der Kosovo-Krise und nach dem 11. September den wichtigen Schritt zur Umkehr dieser Politik machten.

Die einzige Möglichkeit für Deutschland, seine historischen Hemmungen zu überwinden und seiner Nachkriegsentwicklung treu zu bleiben, besteht darin, sich zu verändern. Joschka Fischer und Gerhard Schröder erkannten, dass der beste Weg, Frieden zu schaffen und Völkermord zu verhindern, darin bestand, militärisch zu intervenieren.

Geopolitik: Bleibender Wandel oder kurzes Strohfeuer?

Es muss sich allerdings noch zeigen, ob diese Ankündigungen wirklich eine langfristige Wirkung entfalten. Die Weigerung von Kanzler Scholz, auch Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern, hat in seiner Regierung, der deutschen Bevölkerung und auch bei den Verbündeten großes Unverständnis hervorgerufen. Auch, weil er keinerlei Begründung für diese Entscheidung äußert.

Ebenso bedenklich ist der geringe Raum, den die Außen- und Geopolitik in den deutschen Medien immer noch einnimmt. Abgesehen von der Ukraine gibt es nur sehr wenige Berichte über internationale Politik, und selbst der Krieg ist nur eins von vielen Themen. Ähnlich viel Raum wird der Corona-Politik, missglückten Klimaprotesten und dem angeblichen Fachkräftemangel eingeräumt. Eine vorausschauende Berichterstattung, die sich mit möglichen zukünftigen Konflikten und Problemen beschäftigt, gibt es in der breiten Öffentlichkeit nicht.

Wenn die Bundesrepublik wirklich eine Zeitenwende erleben will, muss der Umgang und die Diskussion um die internationale Politik deutlich ausgeweitet werden. Ein geopolitisches Deutschland, welches eine konstruktive Rolle in der Welt spielt, kann es nur geben, wenn das Volk weiß, welche Entscheidungen getroffen werden müssen und warum. Es führt daher kein Weg dran vorbei: Die Geopolitik muss bei den Menschen ankommen.