Russlands Krieg in der Ukraine hat viele Überraschungen mit sich gebracht. Die größte ist jedoch, dass er überhaupt stattgefunden hat. Letztes Jahr war Russland noch friedlich und in eine komplexe Weltwirtschaft eingebunden. Würde es wirklich die Handelsbeziehungen abbrechen – und mit einem Atomkrieg drohen – nur um sein ohnehin schon riesiges Territorium zu erweitern? Trotz der vielen Warnungen, auch von Wladimir Putin selbst, kam die Invasion wie ein Schock.
Für viele, häufig selbsternannte, Experten, ware es eine schon länger erwartete Entwicklung. Sie folgen der Theorie des Geodeterminismus: wobei die Geographie der Erde Politiker immer wieder zu den gleichen politischen Entscheidungen drängt. Für diesen Krieg, bemühen sie die Topografie Russlands. Es ist von einem Ring aus Bergen und Eis umgeben. Die Grenze zu China ist durch Gebirgsketten geschützt, und vom Iran und der Türkei ist es durch den Kaukasus getrennt. Zwischen Russland und Westeuropa stehen der Balkan, die Karpaten und die Alpen, die eine weitere Mauer bilden. Oder zumindest fast. Nördlich dieser Berge verbindet ein flacher Korridor – die Große Europäische Tiefebene – Russland über die Ukraine und Polen mit seinen gut bewaffneten westlichen Nachbarn. Auf ihr kann man mit dem Fahrrad von Paris nach Moskau fahren.
Man kann aber auch einen Panzer fahren. Eine Lücke in Russlands natürlichen Befestigungen, welche das Land immer wieder Angriffen ausgesetzt hat. „Putin hat keine andere Wahl“, lautet ihre Argumentation „Er muss zumindest versuchen, das Flachland im Westen zu kontrollieren.“ Als Putin genau das tat und in eine Ukraine einmarschierte, die er mit ruhigeren Mitteln nicht mehr kontrollieren konnte, schienen sich diese Vermutungen alle zu bestätigen. Den die Weltkarte „sperrt“ die Führer ein und gibt ihnen weniger Wahlmöglichkeiten und weniger Handlungsspielraum, als man denken könnte.
Es gibt einen Namen: Geopolitik
Es gibt einen Namen für diese Denkweise: Geopolitik. Obwohl der Begriff oft im Sinne von „internationale Beziehungen“ verwendet wird, bezieht er sich genauer auf die Auffassung, dass die Geografie – Berge, Landbrücken, Grundwasserspiegel – das Weltgeschehen bestimmt. Ideen, Gesetze und Kultur sind interessant, argumentieren Geopolitiker, aber um Politik wirklich zu verstehen, muss man sich die Karten genau ansehen. Und wenn man das tut, entpuppt sich die Welt als ein Nullsummenspiel, bei dem jeder Nachbar ein potenzieller Rivale ist und der Erfolg von der Kontrolle des Territoriums abhängt, wie im Brettspiel Risiko. In ihrer zynischen Sicht der menschlichen Motive ähnelt die Geopolitik dem Marxismus, nur dass hier die Topografie den Klassenkampf als Motor der Geschichte ersetzt.
Die Geopolitik ähnelt dem Marxismus auch insofern, als viele ihren Tod in den 1990er Jahren, mit dem Ende des Kalten Krieges, vorhersagten. Die Ausdehnung der Märkte und das Aufkommen neuer Technologien versprachen, die Geografie obsolet zu machen. Wer kümmert sich schon um die Kontrolle der Straße von Malakka – oder des Hafens von Odesa – wenn die Meere voller Containerschiffe sind und Informationen von Satelliten abprallen?Waren, Ideen und Menschen gleiten reibungslos über die Grenzen.
Eine andere Welt
Doch heute fühlt sich die Welt anders an. Da die Lieferketten reißen und der globale Handel ins Stocken gerät, scheint das Terrain des Planeten eher zerklüftet als reibungslos zu sein. Die Feindseligkeit gegenüber der Globalisierung nahm bereits vor der Pandemie zu, wurde durch sie aber noch weiter verstärkte. Die Zahl der Grenzmauern, die am Ende des Kalten Krieges bei etwa 10 lag, beträgt jetzt 74 und steigt weiter an, wobei das letzte Jahrzehnt den Höhepunkt des Mauerbaus darstellt. Die Hoffnung auf eine Globalisierung nach dem Kalten Krieg war eine Illusion und wir erleben jetzt eine erneute Fragmentierung und Regionalisierung der Welt.
Angesichts eines neuen feindlichen Umfelds holen die Staats- und Regierungschefs alte Strategieratgeber aus dem Regal. Dazu gehören auch an einer der ersten Stellen die lange vergessenen Lehren und Konzepte der Geopolitik und die alten Vorstellungen vom ewigen Kampf der Mächte. Diese Sichtweise bestimmt offen die russische Denkweise, wobei Putin seine Invasion in der Ukraine mit „geopolitischen Realitäten“ begründet. Während andernorts der Glaube an ein offenes, handelsbasiertes internationales System ins Wanken gerät, steigen kartenlesende Experten wie Thomas Marshall, Robert Kaplan, Ian Morris, George Friedman und Peter Zeihan in die Bestsellerlisten auf.
In der Geopolitik bleibt alles gleich
Wenn man den Kartenmachern zuhört, fragt man sich, ob sich seit der Welt des Dschingis Khan im 13. Jahrhundert, in der Strategie eine Frage von offenen Steppen und Gebirgsbarrieren war, etwas geändert hat. Das geopolitische Denken ist unverblümt düster, und Hoffnungen auf Frieden, Gerechtigkeit und Rechte werden mit Skepsis betrachtet. Die Frage ist jedoch nicht, ob es düster ist, sondern ob es richtig ist. Die vergangenen Jahrzehnte haben große technologische, intellektuelle und institutionelle Veränderungen mit sich gebracht. Aber sind wir immer noch, „Gefangene der Geographie“, für die „Geographie gleich Schicksal“ ist?
Auf lange Sicht sind wir in fast schon peinlicher Weise Geschöpfe unserer Umwelt, die dort gedeihen, wo es die Umstände erlauben, und dort sterben, wo sie es nicht tun. Plattenkollisionen schaffen Gebirgsketten und große Flüsse, die ihre Sedimente in die Tiefebenen tragen und den Boden anreichern. Das antike Griechenland, Ägypten, Persien, Assyrien, das Indus-Tal, Mesoamerika und Rom lagen alle in der Nähe von Plattenrändern. Der Fruchtbare Halbmond – die reiche landwirtschaftliche Zone, die sich von Ägypten bis zum Iran erstreckt und in der Ackerbau, Schrift und das Rad entstanden – liegt am Schnittpunkt von drei Platten.
Auswirkungen der Geografie
Die Auswirkungen der Geografie können beeindruckend dauerhaft sein, wie das Wahlverhalten im Süden der USA zeigt. Der tiefe Süden ist stark republikanisch geprägt, wird aber von einem Bogen demokratischer Bezirke durchzogen. Es entspricht einem Aufschluss von Sedimenten aus der Zeit vor mehreren Millionen Jahren, die während der heißen Kreidezeit abgelagert wurden, als ein Großteil der heutigen USA unter Wasser lag. Mit der Zeit wurden die Ablagerungen zu Schiefer komprimiert, und mit der Zeit, nachdem sich das Wasser zurückgezogen hatte, wurden sie durch Erosion freigelegt. Im 19. Jahrhundert, erkannten die Pflanzer, dass die Ablagerungen – die wegen ihres reichen, dunklen Bodens „Black Belt“ genannt wurden – ideal für den Baumwollanbau waren. Für die Ernte brachten die Pflanzer Skalven herbei, deren Nachkommen noch heute in der Gegend leben und sich regelmäßig gegen konservative Politiker stellen. Die Stadt Montgomery in Alabama – in der Mitte des Kreidebandes – war auch ein Zentrum der Bürgerrechtsbewegung, wo Martin Luther King Jr. predigte und Rosa Parks den Busboykott auslöste.
„Der geografische Drehpunkt der Geschichte“
Geopolitiker interessieren sich natürlich mehr für internationale Kriege als für lokale Wahlen. Dabei berufen sie sich auf Halford Mackinder, einen englischen Strategen, der ihre Denkweise im Wesentlichen begründet hat. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1904 mit dem Titel „The Geographical Pivot of History“ (Der geografische Dreh- und Angelpunkt der Geschichte) betrachtete Mackinder eine Reliefkarte der Welt und stellte die These auf, dass die Geschichte als ein jahrhundertelanger Kampf zwischen den nomadischen Völkern der eurasischen Ebenen und den Seefahrern an den Küsten betrachtet werden kann. Großbritannien und seinesgleichen waren als Seemächte erfolgreich gewesen, doch nun, da alle lebensfähigen Kolonien beansprucht wurden, war dieser Weg versperrt, und die künftige Expansion würde Landkonflikte mit sich bringen. Die weite Ebene im „Herzland“ Eurasiens, so Mackinders Ansicht, würde das Zentrum der Kriege der Welt sein.
Mackinder lag zwar nicht ganz richtig, aber die groben Konturen seiner Vorhersagen – Auseinandersetzungen um Osteuropa, das Schwinden der britischen Seemacht, der Aufstieg der Landmächte Deutschland und Russland – waren zutreffend. Abgesehen von den Details war Mackinders Vision, dass den Imperialisten die Kolonien ausgingen, die sie für sich beanspruchen konnten, und dass sie sich gegeneinander wenden würden, prophetisch. Er sah voraus, dass dann das Innere Eurasiens die Beute sein würde. Das Kernland „bietet alle Voraussetzungen für die endgültige Beherrschung der Welt“, schrieb er später. „Wer das Kernland beherrscht, beherrscht die Weltinsel; wer die Weltinsel beherrscht, beherrscht die Welt.“
Mackinder hoffte hiermit die englische Politik zu einem agressiveren Verhalten zu bewegen, womit er Erfolg hatte. Aber auch der deutsche General und Wissnschaftler Karl Haushofer, der glaubte, Mackinder besitze „die größte aller geographischen Weltanschauungen“, nahm es als Ratschlag. Haushofer ließ Mackinders Erkenntnisse in die entstehende Geopolitik einfließen und beeinflusste auf diese Weise in den 1920er Jahren Rudolf Hess und Adolf Hitler. „Das deutsche Volk ist in einem unmöglichen Territorium gefangen“, schloss Hitler. Um zu überleben, müsse es „eine Weltmacht werden“, und dazu müsse es sich nach Osten wenden – in Mackinders Kernland.
Der Boden unter unseren Füßen
Adolf Hitlers Überzeugung, dass Deutschlands Schicksal im Osten lag, war weit entfernt von der Beobachtung, dass Kreidefelsen Wahlen vorhersagen. Beiden liegt jedoch die Theorie zugrunde, dass der Boden unter unseren Füßen das prägt, was in unseren Köpfen vorgeht. Im Zweiten Weltkrieg, als Armeen, die um strategisch wertvolles Territorium kämpften, einen Großteil Eurasiens zerrissen hatten, schien dies schwer zu leugnen. Mackinder, der diesen Krieg miterlebte, sah wenig Grund zu der Annahme, dass die „hartnäckigen Fakten“ der Geografie jemals weichen würden.
Halford Mackinder bestand darauf, dass die Reliefkarte immer noch von Bedeutung sei, aber nicht alle waren damit einverstanden. Das ganze 20. Jahrhundert hindurch suchten Idealisten nach Möglichkeiten, die internationalen Beziehungen zu etwas anderem zu machen als zu einem „ewigen Preiskampf“, wie es der britische Ökonom John Maynard Keynes ausdrückte. Nach Ansicht von Keynes und seinen Anhängern könnte dies durch den Handel erreicht werden. Wenn sich die Länder auf einen offenen Handel verlassen könnten, müssten sie sich nicht mehr Territorien aneignen, um sich Ressourcen zu sichern. Für andere Idealisten waren die neuen Technologien des Luftverkehrs der Schlüssel. Sie hofften, dass die Länder aufhören würden, sich um strategische Punkte auf der Landkarte zu streiten, wenn alle Orte über den Himmel mit allen anderen verbunden wären. Dies waren jedoch Hoffnungen, die noch nicht in Erfüllung gingen. Der Kalte Krieg, der den Planeten in Handelsblöcke und Militärbündnisse aufteilte, ließ die Augen der Staatsoberhäupter auf Karten gerichtet bleiben.
Kalter Krieg
Das geopolitische Denken, hinterließ seine Spuren im Kalten Krieg. Der amerikanische Diplomat und Stratege, George F. Kennan, spielte die ideologische Komponente des Konflikts herunter. Der Marxismus sei nur ein „Feigenblatt“, betonte er. Die wahre Erklärung für das sowjetische Verhalten sei das „traditionelle und instinktive russische Gefühl der Unsicherheit“, das durch den jahrhundertelangen „Versuch, auf einer riesigen exponierten Ebene in der Nachbarschaft wilder Nomadenvölker zu leben“, entstanden sei. Für dieses Mackindersche Problem schlug Kennan eine Mackindersche Lösung vor: „Eindämmung“, die nicht darauf abzielte, den Kommunismus auszurotten, sondern ihn einzudämmen. Diese Kampagne führte letztlich zu Interventionen der USA in der ganzen Welt, einschließlich der Entsendung von 2,7 Millionen Soldaten in den Vietnamkrieg. Für viele, die dort dienten, war dieser erfolglose Krieg ein „Sumpf“ – ein Boden, der einen in sich hineinzieht. Erst mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 schien es, als ob die Geographie endlich ihren Griff verlieren würde.
„Golden Arches Theory of Conflict Prevention“
Der Kalte Krieg hatte die Welt wirtschaftlich geteilt, und sein Ende brachte die Handelsmauern zum Einsturz. In den 90er Jahren kam es zu einer Flut von Handelsabkommen und dem Aufbau von Institutionen: die Europäische Union, das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta), der Mercosur in Lateinamerika und, über allem thronend, die Welthandelsorganisation. Die Zahl der regionalen Handelsabkommen hat sich zwischen 1988 und 2008 mehr als vervierfacht, und sie haben sich auch vertieft und umfassender koordiniert. In diesem Zeitraum verdreifachte sich der Handel und stieg von weniger als einem Sechstel des weltweiten BIP auf mehr als ein Viertel.
Je mehr Länder sich über den Handel lebenswichtige Ressourcen sichern könnten, desto weniger Grund hätten sie, Land zu beschlagnahmen. Optimisten glaubten, dass Länder, die eng in ein wirtschaftliches Netzwerk eingebunden sind, darauf verzichten würden, Kriege zu beginnen, aus Angst, den Zugang zu diesem brummenden Netzwerk zu verlieren. Die gipfelte 1996 in der „Golden Arches Theory of Conflict Prevention“: Keine zwei Länder mit McDonald’s werden gegeneinander Krieg führen. Und er lag nicht weit daneben. Obwohl es eine Handvoll Konflikte zwischen Ländern mit McDonald’s gab, ist die Wahrscheinlichkeit, in einem Krieg zwischen Staaten zu sterben, seit dem Kalten Krieg deutlich gesunken.
Neue Welt, neue Schlachtfelder
Zur gleichen Zeit, als der Handel die Wahrscheinlichkeit eines Krieges verringerte, veränderten Militärtechnologien seine Form. Nur wenige Monate nach dem Fall der Berliner Mauer führte Saddam Hussein eine irakische Invasion in Kuwait an. Dies war eine geopolitische Angelegenheit der alten Schule: Der Irak hatte die viertgrößte Armee der Welt aufgestellt, und durch die Einnahme Kuwaits würde er zwei Fünftel der weltweiten Ölreserven kontrollieren. Darüber hinaus waren seine gewaltigen Bodentruppen durch eine große, unwegsame Wüste abgeschirmt, die fast unmöglich zu durchqueren war. Mackinder hätte diese Strategie zu schätzen gewusst.
Aber die 90er Jahre waren nicht mehr das Zeitalter von Mackinder. Saddam entdeckte dies, als eine von den USA angeführte Koalition Bomber aus Louisiana, England, Spanien, Saudi-Arabien und der Insel Diego Garcia schickte, die ihre Nutzlast über dem Irak abwarfen und innerhalb weniger Stunden einen Großteil der Infrastruktur des Landes lahm legten. Es folgten mehr als einen Monat lang Luftangriffe, und dann nutzten die Koalitionstruppen die neue Satellitentechnologie GPS, um die Wüste, die die Iraker fälschlicherweise für eine undurchdringliche Barriere gehalten hatten, schnell zu durchqueren. Hundert Stunden Bodenkampf reichten aus, um die angeschlagene irakische Armee zu besiegen, obwohl hochrangige irakische Offiziere im Nachhinein feststellten, dass selbst dies nicht nötig gewesen wäre. Noch ein paar Wochen der vernichtenden Luftangriffe, und der Irak hätte seine Truppen aus Kuwait abgezogen, ohne jemals einem Gegner auf dem Schlachtfeld gegenübergestanden zu haben.
Was war das „Schlachtfeld“ in den 90er Jahren überhaupt? Der Golfkrieg kündigte eine vieldiskutierte „Revolution im Militärwesen“ an, eine Revolution, die Panzerdivisionen, schwere Artillerie und große Infanterien durch Präzisionsluftschläge zu ersetzen versprach. Der russische Militärtheoretiker Wladimir Slipchenko stellte fest, dass die vertrauten räumlichen Konzepte der Strategen wie Felder, Fronten, Rückseiten und Flanken an Bedeutung verloren. Mit Satelliten, Flugzeugen, GPS und jetzt auch Drohnen ist der „Kampfplatz“ – wie ihn die Strategen heute nennen – nicht mehr die zerknitterte Oberfläche der Erde, sondern ein flaches Blatt Millimeterpapier.
Globale Polizeiarbeit
Ein Himmel voller Drohnen hat noch nicht zum Weltfrieden beigetragen. Aber die Verfechter der neuen Technologien versprechen zumindest sauberere Kämpfe, bei denen weniger Zivilisten getötet, Gefangene gemacht und Truppen entsandt werden. Die Revolution in militärischen Angelegenheiten ermöglicht es mächtigen Ländern – vor allem den USA und ihren Verbündeten -, Einzelpersonen und Netzwerke ins Visier zu nehmen, statt ganze Länder. Dies schien eine Verlagerung vom internationalen Krieg zur globalen Polizeiarbeit und von den blutigen Unterbrechungen der Geopolitik zum reibungsloseren, wenn auch manchmal tödlichen Funktionieren der Globalisierung zu markieren.
Deglobalisierung und Rückkehr der Geopolitik?
Aber hat die Globalisierung die Geopolitik tatsächlich ersetzt? Der Kontrast zwischen dem Golfkrieg 1991 und dem Irak-Krieg 2003-11 ist aufschlussreich. In beiden Fällen führte die globale Supermacht eine Koalition gegen Saddams Irak an. Im ersten Krieg wurde die Luftwaffe eingesetzt, um einen schnellen Sieg zu erringen, während der zweite Krieg für das ungeschulte Auge wie ein weiterer von den USA verursachter Sumpf aussah.
Die weltweiten Exporte, die seit den 90er Jahren rasant gestiegen waren, erreichten um 2008 ihren Tiefpunkt. Heute ist eine „Deglobalisierung“ – ein erheblicher Rückzug des Handels – in naher Zukunft plausibel, und die europäische Integration hat mit dem Brexit einen enormen Rückschlag erlitten. Wie aufs Stichwort gibt es jetzt auch einen Landkrieg in Europa. Es handelt sich sogar um einen „McDonald’s-Krieg“ – die Fast-Food-Kette hatte Hunderte von Filialen in Russland und der Ukraine. Was auch immer Russland an wirtschaftlichen Vorteilen aus dem friedlichen Handel gezogen hat, wurde in Putins Augen vermutlich durch die Warmwasserhäfen der Ukraine, die natürlichen Ressourcen und den strategischen Puffer zu Russlands verwundbarem Westen aufgewogen. Dies ist, wie es denkwürdig formuliert wurde, die „Rache der Geographie“.
Stratfor; privater globaler Nachrichtendienst
Mit der Rache der Geographie kehren auch die geopolitischen Theoretiker zurück, die oft mit dem selbsternannten „privaten globalen Nachrichtendienst“ Stratfor in Verbindung gebracht werden. Die „Schatten-CIA“, wie die Zeitschrift Barron’s sie nannte, hat sich von den Fehlschlägen des Idealismus der Zeit nach dem Kalten Krieg ernährt. Viele der jüngsten Karten-erklärt-die-Geschichte-Bestseller sind aus ihrem Milieu hervorgegangen. Robert Kaplan war eine Zeit lang ihr führender geopolitischer Analyst. Ian Morris, Autor des Buches „Geography is Destiny“, war Mitglied des Beirats. Und die geopolitischen Autoren George Friedman und Peter Zeihan waren der Gründer bzw. Vizepräsident des Unternehmens. (Der britische Schriftsteller Tim Marshall verfügt über ein anderes Netzwerk; sein Buch „Prisoners of Geography“ rühmt sich mit einem Vorwort eines ehemaligen MI6-Chefs.)
Das Unternehmen verkaufte Geheimnisse, aber letztlich war die Kundschaft von Stratfor auf seine Vorhersagen angewiesen. Geopolitiker haben sich nicht gescheut, diese zu machen. In letzter Zeit haben sie so viele übergreifende Vorhersagen gemacht, dass man anfängt, an dem unerschütterlichen Vertrauen zu zweifeln, mit dem sie abgegeben werden. Wird die Türkei zum „Dreh- und Angelpunkt“ für Europa, Asien und Afrika, wie Stratfor-Gründer George Friedman behauptet? Oder wird vielleicht Indien zum „globalen Drehpunkt“, wie Kaplan glaubt (und hinzufügt, dass der Iran der „wichtigste Drehpunkt“ des Nahen Ostens, Taiwan der „Drehpunkt“ des maritimen Asiens und Nordkorea der „wahre Drehpunkt Ostasiens“ ist).
Durchwachsen Erfolgsblianz
Es wäre einfacher, solches Gerede ernst zu nehmen, wenn diese „Experten der Geopolitik“ eine nachgewiesene Erfolgsbilanz hätten. Aber wir warten immer noch auf den „kommenden Krieg mit Japan“, über den George Friedman 1991 ein Buch geschrieben hat, und jede Bewertung von Kaplans Prognosen muss seine Unterstützung des Irak-Krieges berücksichtigen, einschließlich der Mitgliedschaft in einem geheimen Ausschuss, der den Krieg gegenüber dem Weißen Haus befürwortete.
Ob die modernen Mackinders jetzt alle relevanten Faktoren vollständig oder genau berücksichtigen, wird sich erst in Jahrzehnten herausstellen. Aber ihr Blick auf die Gegenwart ist deutlich genug. Es ist weitgehend ein spöttischer Konservatismus, der bezweifelt, dass es viel Neues unter der Sonne gibt. Für Marshall stehen die „Stämme“ auf dem Balkan ständig im Bann „uralter Verdächtigungen“, die Demokratische Republik Kongo „bleibt ein Ort, der in die Dunkelheit des Krieges gehüllt ist“, und die Griechen und Türken sind seit dem Trojanischen Krieg in einen „gegenseitigen Antagonismus“ verstrickt. Kaplan sieht die Dinge ähnlich. Russland sei immer eine „unsichere und sich ausbreitende Landmacht“ gewesen, schreibt er, und sein Volk habe „im Laufe der Geschichte“ in „Furcht und Ehrfurcht“ vor den Bergen des Kaukasus gelebt. Er zitiert zustimmend die Theorie eines pensionierten Historikers, wonach die Russen angesichts der kalten Winter eine erhöhte „Leidensfähigkeit“ besitzen.
Der akademische Geograph Harm de Blij, der Kaplans Die Rache der Geographie rezensierte, fand das Buch bisweilen „quälend“ und schrieb, dass Wissenschaftler überrascht sein würden, wenn sie sehen würden, wie der krude Umweltdeterminismus, der „schon lange auf den Müllhaufen geworfen wurde“, zu neuem Leben erweckt wird. Kaplan räumt ein, dass geopolitisches Denken die Rückbesinnung auf „ausgesprochen unzeitgemäße Denker“ wie Mackinder erfordert, die durch ihre Verbindungen zu Imperialismus und Nationalsozialismus in Verruf geraten sind. Der „Missbrauch seiner Ideen“ bedeute jedoch nicht, dass Mackinder falsch gelegen habe, betont Kaplan. Und damit sind wir wieder bei den unendlich unsicheren Russen, die sich in Angst und Furcht vor einem Gebirge ducken.
Putin: Getriebner der Geopolitik
Selbst mächtige Führer, so die Geopolitiker, können wenig tun, um der Karte zu trotzen. Nachdem Proteste 2014 den russlandfreundlichen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch gestürzt hatten, „musste Putin die Krim annektieren“, schreibt Marshall. Obwohl Marshall die russische Aggression verurteilt, ist sein Tonfall ähnlich wie der, mit dem Putin sie rechtfertigt. „Sie versuchen ständig, uns in die Enge zu treiben“, sagte Putin 2014 über Russlands Rivalen. „Wenn man die Feder bis zum Anschlag zusammendrückt, schnappt sie hart zurück.“ Man könnte einwenden, dass Putins Ideen und Einstellungen und nicht seine Landkarte für die russische Kriegslust verantwortlich sind, doch die Geopolitik lässt für solche Faktoren wenig Raum. „Alles, was man tun kann“, schreibt Marshall in einem anderen Zusammenhang, „ist, auf die Realitäten der Natur zu reagieren“.
Im Mittelpunkt der geopolitischen Weltanschauung steht die Anerkennung der Beschränkungen, die sich aus der „unveränderlichen Natur der Geografie“ ergeben, wie der ehemalige Stratfor-Vizepräsident Zeihan schreibt. Man ziehe ein paar Grenzlinien und „die Karte, mit der Iwan der Schreckliche konfrontiert war, ist dieselbe, mit der Wladimir Putin heute konfrontiert ist“, erklärt Marshall. Da sich weder die Landkarte noch die Berechnungen um sie herum wesentlich ändern, besteht kluges Handeln vor allem darin, unnachgiebige Fakten zu akzeptieren.
„Geografie ist ungerecht“
„Geografie ist ungerecht“, schreibt Ian Morris, und wenn „Geografie Schicksal ist“, wie er ebenfalls behauptet, dann ist dies ein Rezept für eine Welt, in der die Starken stark und die Schwachen schwach bleiben. Geopolitiker sind hervorragend darin, zu erklären, warum sich die Dinge nicht ändern werden. Sie sind weniger geschickt darin zu erklären, wie die Dinge sich ändern.
Das mag die bemerkenswerte Geschichtsblindheit der Geopolitiker erklären. Kam die deutsche Einigung zustande, weil „die germanischen Staaten es endlich leid waren, sich gegenseitig zu bekämpfen“, wie Marshall schreibt? Waren der Vietnam- und der Irak-Krieg „lediglich isolierte Episoden in der US-Geschichte, von geringer dauerhafter Bedeutung“, wie Stratfor-Gründer Friedman behauptet? Stimmt es, wie Zeihan behauptet, dass „die Engländer im Gegensatz zu allen anderen in Europa nie befürchten mussten, dass eine Armee sich langweilt und gemütlich durchzieht“? Oder, wie Kaplan behauptet, dass „Amerika dazu bestimmt ist, zu führen“?
Doch die Geografie verändert sich
Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass dies nicht die Art und Weise ist, wie Geographen – diejenigen, die Karten und von Fachleuten begutachtete Forschungsarbeiten erstellen – schreiben. Wie geopolitische Theoretiker glauben Geographen an die Macht des Ortes, aber sie haben lange darauf bestanden, dass Orte historisch geformt sind. Recht, Kultur und Wirtschaft formen Landschaften ebenso wie tektonische Platten. Und diese Landschaften verändern sich mit der Zeit.
Weizen in Neu-England
Selbst die Topografie, so stellen Geografen fest, ist nicht so unveränderlich, wie Geopolitiker vermuten. Zeihan, der 12 Jahre lang Vizepräsident bei Stratfor war, besteht seit langem darauf, dass die übergroße Macht der USA auf ihre „perfekte Erfolgsgeografie“ zurückzuführen ist. Als die Siedler in Neuengland ankamen, trafen sie auf minderwertige landwirtschaftliche Bedingungen, wo „Weizen ein hartes Nein“ war, und wurden glücklicherweise dazu angespornt, besseres Land im Westen zu beanspruchen. Mit dem reichhaltigen Ackerland kam das eigentliche Geschäft: ein ausgedehntes Flusssystem, das den Binnenhandel zu lächerlich niedrigen Kosten ermöglichte. Diese Eigenschaften, schreibt Zeihan, haben die USA zum „mächtigsten Land der Geschichte“ gemacht und werden dies auch für Generationen bleiben.
Aber solche Faktoren sind keine Konstanten. In Neuengland wurde früher häufig Weizen angebaut, obwohl Zeihan darauf bestand, dass es dort ein „hartes Nein“ sei. Historische Ereignisse – das Auftreten von Schädlingen wie der hessischen Fliege (von der man annimmt, dass sie mit den deutschen Truppen, die im Revolutionskrieg kämpften, eingeschleppt wurde) und die Erschöpfung des Bodens durch zerstörerische landwirtschaftliche Praktiken – führten zu einem Rückgang der Getreideerträge. Die natürlichen Flüsse, auf die Zeihan so viel Wert legt, waren ebenfalls variabel. Um zu funktionieren, mussten sie durch ein teures, künstliches Kanalsystem ergänzt werden, das dann innerhalb weniger Jahrzehnte durch neue Technologien verdrängt wurde. Heute wird in den USA wertmäßig mehr Fracht auf der Schiene, in der Luft und sogar in Pipelines befördert als auf dem Wasser. Lastwagen transportieren 45 Mal so viel Wert wie Boote oder Schiffe.
Dubai: Rechtslandschaft und Terraforming
Das ist eine andere Art zu sagen, dass wir die von uns geerbten Topografien nicht immer akzeptieren. Der höchste Wolkenkratzer der Welt, der Burj Khalifa, steht in Dubai, das jahrhundertelang ein unscheinbares Fischerdorf war, umgeben von Wüste und Salzwiesen. Wenig auf der Reliefkarte hat es zu Größe verholfen. Das Klima ist schwül, und der einstmals bedeutende Ölverkauf macht heute weniger als 1 % der Wirtschaft des Emirats aus. Wenn es etwas gibt, das Dubai auszeichnet, dann ist es seine Rechtslandschaft, nicht seine physische. Das Emirat wird nicht durch ein einziges Gesetzbuch geregelt, sondern ist in Freizonen unterteilt – darunter Dubai Internet City, Dubai Knowledge Park und International Humanitarian City -, die verschiedene ausländische Interessen anziehen sollen. Die Wüste von Dubai ist im Grunde „eine riesige Leiterplatte“, wie der Stadttheoretiker Mike Davis einmal schrieb, an die sich das globale Kapital leicht anschließen kann.
Dubai in ein Geschäftszentrum zu verwandeln, bedeutete, die Stadt auf eine Art und Weise umzugestalten, die der Vorstellung widerspricht, dass die Landkarte das Schicksal ist. Ein Großteil des geschäftigen Handels in Dubai läuft über den Hafen von Jebel Ali, den größten im Nahen Osten. Ein riesiger Tiefseehafen scheint ein wichtiger geografischer Glücksfall zu sein, bis man feststellt, dass Dubai ihn mit großem Aufwand aus der Wüste herausgeschnitten hat. Mit ausgebaggertem Sand haben die Ingenieure von Dubai auch Inseln geschaffen, darunter ein Archipel von mehr als 100, die wie eine Weltkarte angeordnet sind. Grüne Parks und überdachte Skipisten vervollständigen das Naturspektakel.
Der Widerwille der Geopolitiker, rührt daher, dass sie glauben, es gäbe nur zwei Möglichkeiten: die Landschaft zu überwinden oder mit ihr zu leben. Entweder befreit uns die Globalisierung von physischen Zwängen oder wir bleiben in ihnen gefangen. Und da die neuen Technologien und Institutionen die Bedeutung des Ortes nicht beseitigt haben, müssen wir auf die Geopolitik zurückgreifen.
Eine Zukunft ohne alte Karten
Aber sind das die einzigen Optionen? Es scheint viel wahrscheinlicher, dass die Entfaltung der Globalisierung uns nicht ins 19. Jahrhundert zurückwirft, sondern in eine Zukunft voller noch nie dagewesener Gefahren. Wir werden in dieser Zukunft tief greifende Umwelteinschränkungen erleben, nur nicht in der Art und Weise, wie es Geopolitiker vorhersagen. Vielmehr ist es die vom Menschen geschaffene Landschaft, nicht die natürliche, die unser Handeln bestimmen wird – einschließlich der Art und Weise, wie wir die physische Umwelt umgestaltet haben. Die Geografie ist nicht „unveränderlich“, sondern unbeständig. Und wo wir hingehen, werden die alten Karten nicht helfen.
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