Das Römische Kaiserreich und das heutige Russland trennen eine enorme zeitliche und räumliche Distanz, doch zwischen dem Wagner-Aufstand im Sommer 2023 und den Bürgerkriegen zur Zeit der Soldatenkaiser bestehen echte Parallelen. Russland und Rom sind beide stark militarisierte Staaten die an ihren Außengrenzen Krieg führen. Dabei verschiebt sich das Machtzentrum des Staates zu den Armeen an der Front.
Hält sich der Herrscher dauerhaft fern der Front auf, riskiert er eine Machtverschiebung zu den kommandierenden Feldherren und fördert die Entstehung von Revolten und Bürgerkriegen. Diese Erfahrung, die schon den spätantiken römischen Kaisern Probleme bereitete, musste nun auch der russische Präsident Wladimir Putin machen.
In der römischen Spätantike erforderten die langen und unsicheren Außengrenzen des Reiches eine dauerhafte Bewachung und Verteidigung durch riesige Heere. Doch neben der Sicherung der Grenzen ergaben sich daraus auch neue Probleme, denn die starke Militarisierung der Grenzgebiete verschob das reale Machtzentrum vom Kaiser in Rom zu den Feldherren an Rhein und Donau. Der Grund dafür war, dass die Loyalität dieser kampferprobten Truppen nicht beim Kaiser, sondern bei den Feldherren lag, die sie bezahlten und ernährten und sie mit dem Versprechen von Ruhm und Reichtum in die Schlacht führten. Ein römischer General, der sein Können und Geschick im Kampf gegen die Barbaren gezeigt hatte, konnte daher seine Truppen gegen den Kaiser mobilisieren und nach einer siegreichen Schlacht selbst zum Kaiser aufsteigen. Diese Entwicklung führte im 3. Jahrhundert nach Christus zu einer endlosen Kette von Bürgerkriegen, die menschliche und materielle Ressourcen vernichteten und zu einem Zerfall der Staatlichkeit führten.
Obwohl Russland nie zum Römischen Reich gehörte, fühlt es sich trotzdem als dessen spiritueller Nachfolger. Nach dem Fall Konstantinopels an die Osmanen im Jahr 1453 sah sich das Russische Zarenreich als spirituellen Erben des oströmischen Reiches und als neue Schutzmacht des orthodoxen Christentums und deklarierte sich daher zum „Dritten Rom“. So stammt etwa das russische Wort Zar vom lateinischen Wort Caesar (Kaiser) ab. Wie einst die römischen Kaiser hat Wladimir Putin diesen Sommer die bittere Erfahrung gemacht, dass die Loyalität der Wagner-Söldner ihrem Kommandanten Jewgeni Prigoschin und nicht ihm selbst galt. Es zeigte sich, dass die Söldner im Schützengraben mehr Loyalität zu ihren Kommandeuren haben, die mit ihnen die Gefahr an der Front teilen, als zu den Politikern im fernen und sicheren Moskau. Die Sympathie des einfachen Soldaten liegt eher bei dem ruppigen Söldner-Führer Prigoschin als bei Putin. Deshalb konnte Prigoschin seine Söldner zu einer Revolte anstiften, mehrere hundert Kilometer durch Russland ziehen, und Wladimir Putin mit der Drohung eines Bürgerkrieges erpressen. Wie in der Spätantike hielten die Truppen ihrem charismatischen und siegreichen General die Treue und rückten mit schweren Waffen auf das Machtzentrum vor. Es kam zu gespenstischen Szenen, in denen russisches Militär und russische Söldner aufeinander schossen und ein Bürgerkrieg drohte. Putin war in einer unangenehmen Lage: Entweder er ging militärisch gegen Prigoschin vor, indem er Soldaten von der Front abzog und einen Durchbruch der ukrainischen Truppen und einen Bürgerkrieg riskierte, oder er versuchte den Aufstand auf diplomatische Weise zu lösen. Putin entschied sich für einen Deal mit Prigoschin, der seinen Aufstand im Gegenzug für Straffreiheit und freies Geleit nach Weißrussland abbrach. Putin hatte pragmatisch gehandelt und das Problem Prigoschin auf später verschoben.
Doch wie viel ist eine Abmachung mit einem ehemaligen KGB-Agenten wert? Nicht viel, wie sich zwei Monate nach dem Aufstand herausstellte, als eine Bombe an Bord von Prigoschins Privatjet explodierte und ihn und weitere hochrangige Mitglieder der Wagner-Organisation tötete. Die genauen Umstände des Flugzeugabsturzes bleiben ungewiss, doch klar ist, dass Putin von Prigoschins Tod profitiert und ihn wahrscheinlich zu verantworten hat.
Prigoschin hatte Putin öffentlich gedemütigt und gezeigt, dass dessen Macht von der Treue seiner Gefolgsleute abhängt und von diesen infrage gestellt werden kann – bis hin zum Sturz des Präsidenten. Da Putin glaubt, nur an der Macht bleiben zu können, wenn er allmächtig und unbesiegbar scheint, musste der Herausforderer sterben, um jeden Anschein von Schwäche zu tilgen. Auch die römischen Kaiser beeilten sich stets, das Andenken ihrer besiegten Herausforderer zu beseitigen und vernichteten Münzen und andere Propaganda-Artikel der Widersacher. So wollten sie das Gesicht wahren und Nachahmer abschrecken. Prigoschins Tod ist ebenfalls eine Warnung an Putins Konkurrenten: Wer den Kaiser herausfordert, wird sterben.
Wie schon die römischen Kaiser vor ihm hat Putin die bittere Erfahrung gemacht, dass sich erfolgreiche Feldherren gegen den eigenen Herrscher wenden können und dass auch seine Macht nicht absolut ist. Vor dem Krieg in der Ukraine schien Putins Autorität über Armee und Sicherheitsapparat uneingeschränkt, nun hat er einen Teil seiner Macht an die militärische Führung an der Front abgegeben. Es wird sich zeigen, ob es Putin gelingt, die Wagner-Armee neu aufzustellen oder in das reguläre Militär einzugliedern. Sicher ist jedoch, dass auch im 21. Jahrhundert die gleichen Dynamiken gelten können wie in der späten römischen Antike.
Kai Hartmann – Oktober 2023
Kai Hartmann ist studierter Historiker (Master of Arts) und beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Geo- und Sicherheitspolitik. Zu seinen Interessen gehören die transatlantischen Beziehungen und der Zerfall des Sowjetunion.
Der Text wurde uns mit der freundlichen Bitte um Veröffentlichung zugesandt. Alle Inhalte und Meinungen sind ausschließlich die des Autors.
Hinterlasse einen Kommentar