„Die Geopolitik verzeiht keine Unwissenheit und belohnt keine Unentschlossenheit“.

I. Einführung

Die NATO-Tagung, die am 24. und 25. Juni 2025 in Den Haag stattfand, fand in einem angespannten und unbeständigen internationalen Kontext statt, in dem die auf Regeln basierende globale Ordnung unter Druck ist und die europäische Sicherheitsarchitektur durch die russische Aggression gegen die Ukraine weiterhin stark beeinträchtigt wird. Das Fortbestehen des Konflikts in der Ukraine, die Eskalation der Spannungen im Nahen Osten, die Stärkung der chinesisch-russischen strategischen Partnerschaft und die Neuordnung der globalen Machtverhältnisse bestimmen eine kritische Phase für die euro-atlantische kollektive Sicherheit. Dabei diente das Treffen auch der Vorbereitung des nächsten NATO-Gipfels, auf dem die strategische Ausrichtung des Bündnisses für die kommenden Jahre festgelegt werden soll.

Gleichzeitig wird die Welt Zeuge zunehmender Spannungen im Nahen Osten, sich verschärfender Rivalitäten zwischen Großmächten im indopazifischen Raum und der Ausbreitung hybrider und Cyberkonflikte. Vor diesem Hintergrund ist die Analyse der Haager Tagung von großer Bedeutung für das Verständnis der Richtung, in der die NATO ihre strategische Rolle neu definiert, während eine gründliche Auswertung der daraus gezogenen Lehren sowohl für die Streitkräfte als auch für die Nachrichtendienste der Mitgliedstaaten notwendig ist.

II. Das Treffen in Den Haag – Strategische Botschaften und Prioritäten der NATO

Von der Tagung in Den Haag gingen mehrere klare Signale aus:

  • Bekräftigung der alliierten Solidarität und Stärkung der kollektiven Verteidigungsfähigkeiten, insbesondere an der Ostflanke Europas
  • Beschleunigung der Umsetzung regionaler Verteidigungspläne, die Teil der neuen Abschreckungs- und Reaktionsstrategie der NATO sind
  • Verstärkte Unterstützung für die Ukraine, u.a. durch robustere Versorgungslinien für Waffen, technische Hilfe und den Austausch operativer Erkenntnisse
  • Bewertung der Bereitschaft der militärischen Fähigkeiten der Alliierten im Hinblick auf das neue Konzept der „Multidomänenverteidigung“ (Land, Luft, See, Weltraum, Cyber)

Das Treffen legte den Grundstein für den nächsten Gipfel, auf dem zusätzliche Beiträge der Mitgliedsstaaten zum Verteidigungshaushalt und die Stärkung der Beziehungen der NATO zu globalen Partnern, insbesondere im pazifischen Raum, formalisiert werden sollen.

III. Das internationale Sicherheitsumfeld – drei wichtige Trends

  1. Fortdauer des Krieges in der Ukraine: Der Konflikt scheint in eine Phase der strategischen Zermürbung einzutreten, die zu einem langwierigen „eingefrorenen Konflikt“ werden könnte. Russland passt seine Taktik weiter an und kombiniert massive Raketen- und Drohnenangriffe auf zivile Infrastrukturen mit einer offensiven Darstellung im internationalen Informationsraum. Die NATO steht vor einem Dilemma: Wie kann sie die Ukraine wirksam unterstützen, ohne den Konflikt direkt zu eskalieren?
  2. Instabilität im Nahen Osten: Die strategische Rivalität zwischen Israel und Iran hat sich verschärft, wobei nicht staatliche Akteure, die von Teheran unterstützt werden (Hisbollah, Houthis), direkt beteiligt sind. Eine wichtige geopolitische und strategische Entwicklung ist der jüngste Angriff der USA auf wichtige Ziele des iranischen Atomprogramms, darunter Urananreicherungsanlagen und Forschungszentren, die im Verdacht stehen, Atomwaffen zu entwickeln. Die Operation, die mit hochpräzisen Mitteln durchgeführt und durch nachrichtendienstliche Erkenntnisse regionaler Partner unterstützt wurde, war zwar begrenzt, aber von strategischer Bedeutung: Sie sendete ein klares Signal hinsichtlich der roten Linie der USA in Bezug auf die Verbreitung von Kernwaffen in der Region und erhöhte gleichzeitig das Risiko einer Konflikteskalation.
  3. Eskalierende Spannungen im indo-pazifischen Raum: Obwohl die NATO kein operatives Mandat im indo-pazifischen Raum hat, wurde auf der Tagung die wachsende Besorgnis über das Vorgehen Chinas hervorgehoben: Druck auf Taiwan, Militarisierung des Südchinesischen Meeres, indirekte Unterstützung Russlands und Einsatz neuer Technologien zur Überwachung, hybriden Einflussnahme und Cyberspionage. Die NATO bekräftigte die Notwendigkeit einer verstärkten Zusammenarbeit mit den regionalen Partnern – Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland -, um Versuche, den Status quo mit Gewalt zu verändern, zu unterbinden.

IV. Interne Herausforderungen für das Bündnis: Budgets, Zusammenhalt, Leistungskriterien

Trotz der demonstrierten Einigkeit steht die NATO vor Herausforderungen in folgenden Bereichen:
  • Unausgewogene Verteidigungshaushalte (nicht alle Staaten erreichen die Schwelle von 2 % des BIP)
  • Anhaltende bilaterale Spannungen (Türkei-Griechenland, Ungarn-Ukraine, obwohl letzteres kein NATO-Mitglied ist) sowie vor der Tagung von Beamten aus der Slowakei und Italien geäußerte Positionen
  • Der Einfluss der Innenpolitik auf die militärische und nachrichtendienstliche Effizienz.

Ein kontroverses Thema war die Auswirkung der in einigen westlichen Strukturen verfolgten Politik der Vielfalt, Gleichberechtigung und Einbeziehung (DEI). Diese werden dafür kritisiert, dass sie die verdienst- und leistungsorientierte Auswahl zu Lasten der operativen Effizienz untergraben – mit möglichen negativen Auswirkungen in Krisensituationen.

V. Militärische Lektionen – Anpassung an die Kriegswirklichkeit des 21. Jahrhunderts

  • Die Bedeutung der Informationsüberlegenheit und der schnellen Reaktion auf taktischer, operativer und strategischer Ebene ist für den Erfolg einer jeden Operation von wesentlicher Bedeutung.
  • Die Notwendigkeit einer echten Interoperabilität zwischen den militärischen Systemen der Mitgliedstaaten.
  • Neubewertung der logistischen Fähigkeiten.
  • Stärkung der Luftverteidigungs- und Drohnenabwehrfähigkeiten auf der Grundlage der Lehren aus der Ukraine.
  • Die strategische und technologische Flexibilität der USA ermöglicht Operationen außerhalb des europäischen Raums.
  • Die Bedeutung präventiver Abschreckungsfähigkeiten wird wieder zu einem wichtigen Punkt auf der Sicherheitsagenda.

VI. Lektionen für Nachrichtendienste

  • Die Informationskriegsführung erfordert eine verbesserte Fähigkeit zur Aufdeckung von Desinformation.
  • Die Personalpolitik muss neu bewertet werden: Leistungsprinzipien müssen Vorrang haben.
  • Die Notwendigkeit einer echten Zusammenarbeit zwischen den alliierten Nachrichtendiensten.
  • Verstärkung des Schutzes gegen Infiltration und Verrat.

VII. Allgemeine Schlussfolgerungen

Die NATO-Tagung in Den Haag im Jahr 2025 wurde maßgeblich durch die US-Angriffe auf iranische Atomanlagen beeinflusst, die die weltweiten Spannungen verstärkten und die Fragilität der internationalen Sicherheit deutlich machten. Die gefassten Beschlüsse – von der Stärkung der kollektiven Verteidigung bis zur Intensivierung der nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit – spiegeln die Bemühungen der NATO wider, sich an ein unbeständiges strategisches Umfeld anzupassen. Die Tagung in Den Haag bekräftigt die NATO als Eckpfeiler der euro-atlantischen Sicherheit. Das Bündnis ist mit einer komplexen strategischen Gleichung konfrontiert: einem konventionellen Krieg im Osten (Ukraine), asymmetrischen Risiken im Süden (Naher Osten, Nordafrika) und einem systemischen globalen Wettbewerb mit China. In diesem Kontext wird die Fähigkeit der NATO, glaubwürdig, kohäsiv und effektiv zu bleiben, von der Modernisierung der Doktrinen, der internen Einheit und der globalen Projektionsfähigkeit abhängen.

Es ist eine Gelegenheit, sich als wichtiger regionaler Akteur zu positionieren, vorausgesetzt, man verfügt über eine klare strategische Vision, eine angepasste Verteidigungspolitik und ein nationales Sicherheitssystem, das mit den operativen und wertbezogenen Standards der NATO in Einklang steht. Es ist auch ein Moment, in dem man über die Qualität der politischen und institutionellen Führung in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit in einem zunehmend unsicheren und unvorhersehbaren internationalen Kontext gründlich nachdenken sollte.

Über den Autor:
Corneliu Pivariu ist ein hochdekorierter Zwei-Sterne-General der rumänischen Armee. Er hat eine der einflussreichsten Zeitschriften für Geopolitik und internationale Beziehungen in Osteuropa, die zweisprachige Zeitschrift Geostrategic Pulse, gegründet und zwei Jahrzehnte lang geleitet. General Pivariu ist Mitglied des IFIMES-Beirats.

Vortrag im Rahmen des von EURODEFENSE organisierten internationalen Webinars in Bukarest, Rumänien, am 26. Juni 2025.

Der Artikel gibt den Standpunkt des Autors wieder und spiegelt nicht unbedingt den Standpunkt von IFIMES wider.

 

Der Text wurde uns vom „International Institute for Middle East and Balkan Studies (IFIMES) mit der freundlichen Bitte um Veröffentlichung zugesandt. Wir haben uns erlaubt, ihn ins Deutsche zu übersetzen. Alle Inhalte und Meinungen sind ausschließlich die des Autors.