von Alexander Gottfried Straube

Einleitung

Tai Ping Jing, 3 Zeichen, 3 Wörter, 2 Begriffe. Jing ist dabei noch recht einfach zu beschreiben, es bedeutet Schriftstück, Leitfaden[1] oder Klassiker[2] und ist ein Ehrentitel für ein Buch. Tai Ping hingegen ist schwerer zu fassen. Tai steht für das Größte, das Höchste, es erzeugt ein Superlativ. Ping jedoch ist nur zu umschreiben. Übersetzt wird es meist mit „Friede“, in Verbindung mit Tai „Größter Frieden“. Allerdings enthält es auch die Vorstellung von Wohlstand, Stabilität und sogar einer gewissen Harmonie.[3]

Der Begriff taucht in der chinesischen Geschichte immer wieder auf, sei es als Schlagwort in einer Handschrift der Tang-Zeit, sei es als Bezeichnung eines der größten Konflikte überhaupt, des Taiping- Aufstandes im 19. Jahrhundert.

Interessanterweise verweist Ping aber auch auf die Waage im Gleichgewicht und damit auf das Element der Gleichheit. Dies ist bemerkenswert, da die chinesische Gesellschaft traditionell auf dem Konfuzianismus basiert, einer Lehre, die Hierarchien auf extreme Weise betont. Die Alten stehen über den Jungen, Männer über Frauen, der große Bruder über dem kleinen Bruder und der Regent über dem Untertanen. Die chinesische Tradition geht folglich von einer Ungleichheit der Menschen aus.

Wie passt dies nun mit dem Taiping Jing „Klassiker der höchsten Gleichheit“ zusammen”? Um dies zu untersuchen habe ich das Werk darauf untersucht, wie es zu Hierarchien steht. Werden diese abgelehnt? Werden sie unterstützt? Spielen sie überhaupt eine Rolle? Ist Ping tatsächlich Gleichheit oder ist die Wahrheit noch komplexer.

Um dies zu ergründen, habe ich mich an das Werk selbst gewandt. Die verwendete Ausgabe war die aus dem Jahre 1979 in Beijing von Wang Ming editierte Version. Ich habe aber auch die Übersetzung „The Scripture on Great Peace. The Taiping Jing and the beginnings of Daoism. “von Barbara Hendrischke (Berkeley, Los Angeles, London 2006) als Hilfe verwendet.

 

Hierarchie und Gleichheit im Taiping Jing

Grundlagen zum Daoismus

Bevor man sich mit dem Inhalt des Taiping Jing befasst, ist es von großem Nutzen sich die Grundlagen des Daoismus vor Augen zu führen. Der Begriff Daoismus leitet sich von dem Begriff Dao ab, welcher ursprünglich „Wege, Methode“ bedeutet.[4] Allerdings wurde er mit der Zeit immer mehr zu einem Synonym für Gott oder das Göttliche.[5]

Als Ausgangspunkt gilt das Daodejing des Laozi, welches um 500 v. Chr. datiert wird. Weitere Texte wurden in den nachfolgenden Jahrhunderten verfasst, bis es im 2. Jahrhundert n. Chr. zu einer Vergöttlichung Laozis und dem Ausbau der bisherigen Lehre zu einer Religion kam.[6]

Yin Yang Taiping Jing

Zentral für den Daoismus ist das Prinzip des Nicht-Handelns,[7] da menschliches Fehlverhalten die kosmische Harmonie stört.[8] Durch Gelassenheit gegenüber seinen Wünschen, dem Tod und der Welt, soll man sich auf den rechten Weg bewegen und Himmel und Erde sich selbst heilen lassen,[9] wobei die Polarität und der Rhythmus von Yin und Yang zu beachten sind.[10] Das Ziel ist dabei eine Rückkehr zur Einheit mit dem Dao.[11]

In einigen Denkrichtungen geht diese Forderung soweit, dass man sich keinen Namen machen soll und ein Rückzug aus der Gesellschaft gilt als empfehlenswert.[12] Diese Ansicht brachte natürlich Konflikte mit den staatstragenden Konfuzianisten mit sich, führte andererseits aber auch zu einer reichen Tradition von Einsiedlern und Klöstern; welche wiederum den Boden für Heiligen- und Geisterglauben sowie Gebete und Amulette war.[13] Von allen Daoisten wird jedoch der Vorrang der Kultivierung des eigenen Körpers vor materiellem Erfolg bestätigt.[14] Das ultimative Ziel ist dabei die Lebensverlängerung bis zur Unsterblichkeit.[15]

Bezüglich der Staats- und Gesellschaftsordnung ist der Daoismus uneins. Es gibt zwar das Ideal eines Staates, in dem durch das Dao Frieden und Harmonie herrschen und der durch Nicht-Handeln regiert wird.[16] Wie ein Reich organisiert sein soll bevor das Dao regiert oder wie mit Hierarchien umzugehen ist, wird selten erwähnt.

Der Daoismus besitzt eine sehr quietistische Mystik, die die Einheit mit sich selbst betont.[17] Viele Glaubensinhalte, wie etwa die Lebensverlängerung, setzen Eigenverantwortung voraus.[18] Andere, wie die vielen Rituale und Götter,“[19] legen das Schicksal in die Hände des Jenseitigen. Der Daoismus ist somit individuell und erfordert kein spezielles politisches Programm. Nur die spirituelle Einheit mit dem Dao ist für Harmonie und Frieden von Nöten. Allerdings gab es auch Einflüsse des Konfuzianismus und des Buddhismus,[20] die sich zum Beispiel in der Verwendung buddhistischer Terminologie äußern.[21] Dies führte natürlich zur Übernahme von Konzepten, auch die Ordnung der Gesellschaft betreffend. So findet man konfuzianistische Ideen neben originär daoistischen.

Kompliziert wird eine Bewertung auch durch die vielen verschiedenen Traditionsstränge.[22] Lehren einer Schule können denen einer anderen widersprechen. Eine allgemeine Aussage über die Gesellschaftsordnung im Daoismus ist somit nicht möglich.

 

Das Taiping Jing

Auf den Titel wurde bereits in der Einleitung eingegangen. Das Werk selbst muss als umstritten betrachtet werden. Es zählt zwar zum Kanon, Jedoch nicht zur großen Tradition.[23] Tatsächlich sind mehrfach Schriften mit diesem Titel als abtrünnig verworfen worden,[24] wobei allerdings nicht erwiesen ist, ob es sich immer um diesen Text oder um einen anderen gleichen Namens handelt.

Entstanden ist er vermutlich gegen Ende der Han-Zeit im 2. Jahrhundert n. Chr.[25] Er ist im Grunde eine Art Offenbarungstext,[26] der jedoch in weiten Teilen fast die Form einer Vorlesungsmitschrift hat.[27]

Taiping jing (太平經 / 太平经)

Interessanterweise wird das Taiping Jing mit mehreren Verschwörungen in Zusammenhang gebracht.[28] Die bekannteste ist dabei der Aufstand der Gelben Turbane, der sich 184 n. Chr. ereignete.[29] Das Besondere an dieser Erhebung war, dass sie von einem daoistischen Heiler angeführt wurde und stark daoistisch inspiriert war.[30]

Neben den Gelben Turbanen wurde aber auch der Sekte der Himmelsmeister, der ersten organisierten Ausformung einer daoistischen Religion, eine Verbindung zum Taiping Jing unterstellt.[31] Damit würde sich dieses Werk am entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte des Daoismus befinden, der Transformation vom intellektuellen Gedankenspiel hin zur organisierten Massenreligion.

 

Hierarchie durch Dao

Nicht unerwartet für ein daoistisches Werk, betont auch das Taiping Jing die Rolle von Yin und Yang, dem Qi und des Dao insgesamt. Dabei gilt auch, dass man mit tieferem Verständnis und höherer Meisterschaft in der Lehre, innerhalb einer Hierarchie aufsteigen kann.

Warum funktionieren Yin und Yang harmonisch, während der Himmel 9 Arten von Mensch verwaltet? Der Mensch ist der Vorstand, der alle Dinge wachsen lässt. Es gibt Geist-Menschen, diese beauftragen das Qi, ihre Aufgabe ist es, sich mit dem ursprünglichen Qi zu beschäftigen. Es gibt Menschen von großem Geist, deren Aufgabe es ist, sich mit dem Himmel zu beschäftigen. Wahrhaftige Menschen, deren Aufgabe es ist, sich mit der Erde zu beschäftigen. Unsterbliche Menschen, deren Aufgabe es ist, sich mit den 4 Zeiten zu beschäftigen. Menschen von großem Dao, deren Aufgabe es ist, sich mit den 5 Zuständen zu beschäftigen. Weise Menschen, deren Aufgabe es ist, sich mit Yin und Yang zu beschäftigen. Würdige Menschen, deren Aufgabe es ist, Sprache und Bücher in Ordnung zu bringen. Das gemeine Volk, deren Aufgabe es ist, sich mit Gras, Bäumen und den 5 Getreidesorten zu beschäftigen. Und Diener, deren Aufgabe es ist, sich um Güter zu kümmern.“[32]

Das Bemerkenswerte an dieser Ordnung ist ihr sowohl vertikaler als auch horizontaler Charakter. Es ist offensichtlich, wie sich die verschiedenen Stufen an Prestige und Bedeutung unterscheiden. Der Diener ist in rein weltliche Belange verwickelt und beschäftigt sich nur mit unnatürlichen und künstlichen Objekten, wie etwa Waren. Der gemeine Mann hingegen ist zwar auch weltlich orientiert, seine Materie sind aber die Pflanzen und Tiere, welche zumindest natürlichen Ursprungs sind. Mit den Würdigen beginnt nun aber eine Vergeistigung der Aufgaben. Da sie die Texte und Reden ordnen und bewahren müssen, stellen sie in gewisser Weise die Pförtner zwischen der weltlichen Ebene und dem Weg zur geistlichen Meisterschaft dar. Alle weiteren Ebenen widmen sich transzendenten Aufgaben. Dies reicht bis zur ersten Stufe die sich dem ursprünglichen Qi widmet, was man als Rohe und ursprüngliche Lebenskraft bezeichnen könnte. In diesem Stadium der Meisterschaft wird auch die Verbindung zur Unsterblichkeit und Vergöttlichung hergestellt, da die Männer dieser Stufe bereits ihren Körper hinter sich gelassen haben und nun geistergleich sind. Es wird somit die daoistische Vorstellung von Selbsterlösung durch Kultivierung des Selbst abgebildet. Allerdings resultiert eine größere Vollkommenheit nicht in einem Zuwachs an Befehlsgewalt. Die verschiedenen Ebenen widmen sich unterschiedlichen Gebieten, die sich zwar in der Bedeutung unterscheiden, aber nicht unbedingt tangieren. Es ist somit eher ein Nebeneinander der verschiedenen Gruppen statt einer tatsächlichen Hierarchie.

Dies stellt eine Abkehr vom traditionellen Prinzip, welches klare vertikale Ordnungen fordert, dar. Ein Eindruck, der sich noch vertieft, wenn man die Durchlässigkeit der verschiedenen Stufen betrachtet.

„Wie der Himmelsmeister gesagt hat, haben die Dinge eine tiefe Stufe und eine hohe Stufe. Wir haben von den 9 Menschen erfahren. Die höchste Ebene sind die Menschen deren Geist Qi befiehlt zu handeln, die tiefste Ebene sind Diener. Wenn die unteren Ebenen durch Lernen hohe werden können, können in diesem Fall die hohen Ebenen sich auch nach unten bewegen?“ [33]

Es ist nach der Vorstellung im Taiping Jing also möglich, von der untersten in die höchste Stufe zu kommen, indem man Studien betreibt, eine Position, die als extrem fortschrittlich erscheint und an die moderne Leistungsgesellschaft erinnert. Es gibt folglich eine Mobilität in der Ordnung. Bevor man nun jedoch zu voreiligen Schlüssen kommt, muss man eine bedeutende Unterscheidung machen: geistliche oder weltliche Hierarchie?

„Im frühen Altertum siegten für die 3 obersten majestätischen Menschen, weise Menschen. Diese siegten über andere Menschen und regierten durch Dao und Tugend, nicht durch Strenge und Täuschung.“ [34]

Wie aus diesem kurzen Zitat hervorgeht, gab es Männer, die trotz perfekter Tugendhaftigkeit und Dao, nicht Herren, sondern Untergebene waren, da sie für diese siegten. Es wird also von einer weltlichen Ordnung ausgegangen, der ein Herrscher voransteht. Dies stellt auf den ersten Blick einen Widerspruch zur oben erwähnten Ordnung da. Dieser lässt sich aber recht leicht auflösen, wenn man beachtet, dass es eine Unterscheidung zwischen geistlicher und weltlicher Hierarchie gibt. Es gibt eine weltliche Ordnung mit Herrscher und Untertanen und eine geistliche, die sich der Harmonisierung des Kosmos widmet. Dies wird deutlich, wenn man erneut das obige Zitat über die Gruppen von Männern beachtet. Wie festgestellt wurde, bewirken höhere Stufen nicht, dass man über andere Menschen herrscht, sondern beschreiben nur die verbesserten Fähigkeiten dem Dao gegenüber. Und tatsächlich findet sich keine Stelle im Taiping Jing, in der gefordert wird, dass man den Herrscher stürzen und durch einen Meister des Dao ersetzen sollte. Stattdessen wird der Vorschlag gemacht, Berater zu werden und den Herrscher zu unterrichten, eine Forderung die es in vielen Klassikern gibt.

 

Weltliche Hierarchie

Nun stellt sich die Frage welche Anforderungen das Taiping Jing an die weltliche Ordnung stellt.

„Im frühen Altertum stimmten die hohen Herren, die Menschen durch das Dao beherrschten, zum größten Teil mit dem Herz des Himmels überein. Sie regierten wie Geister, aber ohne Unordnung, durch wahres Dao über die Menschen. Mittlere Herrscher befahlen dem Menschen durch Tugend, niedere Herrscher befahlen den Menschen durch Menschlichkeit, Herrscher der Unordnung befahlen dem Menschen durch Gesetz und die Herrscher des Unglücks und der Niederlage befahlen dem Menschen durch Strafe, Verletzungen und Mord. Die hohen Herrscher des Altertums beherrschten den Menschen durch Dao, Tugend und Menschlichkeit, nicht durch Gesetz, Strafe, Mord und Verletzungen.“[35]

Wie man sehen kann, wird hier eine klare Wertung abgegeben. Die Herrschaft durch Dao gilt, wenig verwunderlich, als die beste Form der Regierung. Die nachfolgenden Methoden werden dabei immer primitiver und weltlicher. Die Regierung wird somit angehalten, sich vom Dao leiten zu lassen. Interessant ist zu sehen, dass die komplette geistliche Hierarchie der Regierung unterstellt wird, wie das folgende Zitat belegt:

„Wer mit dem Herz des Himmels regiert, wird hauptsächlich die 9 Qi sich vereinigen lassen und die Herzen der 9 Menschen zusammen bringen, wie früher wird es Tai Ping[36] von höchster Majestät erreichen können.“[37]

Hier fallen verschiedene Beobachtungen zusammen. So werden die neun Menschen-Gruppen nebeneinander gestellt und nicht vertikal angeordnet. Ihre Aufgabenfelder sind, wie schon oben beschrieben wurde, nicht übereinander, sondern nebeneinander. Es ist somit eindeutig, dass eine Meisterschaft im Dao nicht zur Herrschaft berechtigt. Ja, es ist aus dieser kurzen Zeile sogar ersichtlich, dass ein Primat der weltlichen Macht über die geistliche besteht. Denn es ist ja Aufgabe der Regierung die Beziehungen zwischen den neun Gruppen zu regulieren und das Qi zu Harmonisieren. Die Position eines daoistischen Meisters ist damit, gemäß Taiping Jing, die eines Untertanen.

Es ist auch zu klären, wie sich das Dao auf den Aufbau der Gesellschaft auswirkt. Eine Frage, die von besonderer Bedeutung ist, da der Daoismus im Allgemeinen und das Taiping Jing im Besonderen als Inspiration von Aufständischen gelten.

„Nun, lebende Menschen ähneln dem Himmel, Tote der Erde. Der Himmel ist Vater; Die Erde ist Mutter. Der Mutter sollte nicht gehorcht werden wie dem Vater. Der lebende Mensch ist Yang; Der tote Mensch Yin. Yin sollte nicht gehorcht werden wie Yang. Yang ist der Herrscher; Yin der Untergebene. Dem Untergebenen sollte nicht gehorcht werden wie dem Herrscher.“[38]

Wie man hier sehen kann, ist die Position des Taiping Jing ausgesprochen konservativ. Die traditionelle Ordnung von Mann-Frau und Herrscher-Untertan wird nicht angegriffen, sondern sogar noch religiös untermauert. Statt einfach auf einer Struktur zu beharren, werden Yin und Yang herangezogen um sie zu erklären. Dadurch wird jeder Verstoß gegen die alte Ordnung ein Vergehen gegen das Dao, welcher ohne Zweifel zu großem Unglück führen wird. Es findet folglich eine Verschmelzung zwischen alten Strukturen und Daoismus statt. Diese Verbindung ist dabei für beide Seiten vorteilhaft, einerseits stützt sie die gesellschaftliche Hierarchie, andererseits wird der Daoismus durch die Tradition legitimiert.

Trotz allem findet man auch Stellen, die sich in ungewohnter Weise für den kleinen Mann aussprechen, dem in vielen Werken jede Form von rationalem Gedanken abgesprochen wird. Nicht so im Taiping Jing:

„Jetzt trage eilig das Buch vom Dao, das gewahr geworden ist, schicke es zu allen Menschen. Erlaube ihnen, ihre Lebens-Essenz zu festigen, lies ihnen vor, um sie mit dem großen Dao zu vereinigen. Damit sie zuerst wissen, woher ihre Fehler kommen und damit das erworbene Schlechte abgelegt werden kann.“ [39]

Wie man sehen kann, wirkt sich die Trennung zwischen Hierarchie des Dao und weltlicher Hierarchie auch positiv aus. Jeder kann die Lehren beachten, die Essenz stabilisieren und dem Dao folgen. Und jeder wird auch dadurch, in kosmischer Weise, belohnt werden. Dadurch wird natürlich jeder Konflikt mit den weltlichen Machthabern umgangen.

 

Die Frauenfrage

Wie gezeigt wurde, ist die Haltung des Taiping Jing der Gesellschaftsordnung gegenüber recht ambivalent. Zum einen wird versucht eine eigene religiöse Ordnung zu etablieren, zum anderen wird der bestehenden Ordnung signalisiert, dass man keine Bedrohung für sie ist und sie eigentlich stützen möchte. Im Zentrum beider Unterfangen steht das Dao, Yin und Yang sowie die Harmonie des Kosmos. Sehr gut kann man dies am Beispiel der Frauenfrage sehen. Das Taiping Jing wird von diversen modernen Werken als Vorreiter der Emanzipation und Frauenbefreiung gesehen. Und tatsächlich finden sich Passagen, die den Frauen weitgehende Rechte einräumen.

„Wenn eine Frau der Familie ihres Gatten beitritt, müssen sie sich gegenseitig dienen und mit dem Herzen zusammenleben. Zusammen werden sie die Erträge von Himmel und Erde fortsetzen, bis sie sterben und ihre Gebeine und Fleisch zurückkehren. |…] Himmel und Erde würden eine Frau nicht ihrer Erträge berauben, dies sollte für Menschen ein Grundsatz sein! Wenn dies so wäre würde kein Mensch ein Mädchen töten.“[40]

Die Frau ist folglich nicht nur berechtigt, von ihrem Ehemann Unterstützung zu erhalten, sondern sie kann auch selbst Erwerbungen vornehmen. Dies würde sie aus der Abhängigkeit von ihrem Mann lösen und ihr selbst die Möglichkeit geben, für ihre Eltern zu sorgen. Das Beachten dieser Verordnung würde somit die Gesellschaft verändern.

Wenn man nun jedoch die Begründung für diese Ansichten betrachtet, kommt der Daoismus deutlich zum Vorschein:

„Heutzutage wird Dao dadurch verloren, dass viele Mädchen verachtet, misshandelt und sogar ermordet werden. Daher gibt es weniger Frauen als Männer, so ist das Qi vom Yin reduziert, was nicht den Regeln von Himmel und Erde entspricht.“ [41]

Die Mädchen sollen folglich in der Lage sein, ihre Eltern zu versorgen, damit sie ihre Töchter nicht verachten und umbringen. Dies wiederum sollten die Eltern nicht tun, da sie sonst die Harmonie von Yin und Yang stören. Gemäß Taiping Jing sollten die Mädchen weitere Rechte nicht bekommen, um sich irgendwie von ihrem Mann zu lösen, sondern um ihre Eltern davon abzuhalten, den Himmel und Erde gegen sich aufzubringen.

Tatsächlich gibt es aber auch andere Empfehlungen im Taiping Jing, so heißt es:

„Den Regeln des Himmels folgend, ist die Zahl des Yang die 1, die Zahl des Yin 2. Yang ist einzeln, Yin ist ein Paar. Deswegen gab es wenige Herrscher, aber viele Untergebene. Yang ist geehrt, Yin ist bescheiden. Deshalb dienten 2 Yin zusammen Yang, die Zahl des Himmels ist 1 aber die der Erde ist 2, und 2 Frauen dienen 1 Mann zusammen.“[42]

Der gleiche Text, der die Rechte der Frauen ausweiten möchte, fordert auch Bigamie des Mannes und setzt das Verhältnis Weib-Mann mit dem Verhältnis Untergebener-Herr gleich. Damit wird natürlich eine schwache gesellschaftliche Stellung der Frau nicht nur bekräftigt, sondern auch religiös untermauert.

Wie man somit sehen kann, stärkt das Taiping Jing auf der einen Seite die Frau, auf der anderen setzt es sie klar unter den Mann. Als eigentlicher Grund für beide Regelungen wird die Harmonie von Yin und Yang verwendet. Interessanterweise wird nun allerdings der Bogen, zurück von der geistlichen, hin zur weltlichen Ebene geschlagen.

„Das Männliche ist der Lebensgeist des Himmels, das Weibliche ist der Lebensgeist der Erde. Die Dinge beeinflussen sich gegenseitig, dass der König nicht im Ping regiert, ist nicht nur seine Schuld. Die Menschen haben das Dao verloren und vernachlässigen die Dinge. Sie zusammen haben viele Fehler, nicht 1 Fehler, sondern ganz viele. Es ist schwer in Ping zu reagieren und es kann misslingen. Für Himmel und Erde ist, von 12000 Sachen, das Leben des Menschen die höchste Sache, daher bringt das Misshandeln und Töten von Mädchen die Regierung des Königs durcheinander, dies ist ein großer Verstoß.“[43]

Lassen sie uns einmal die ganze Kausalkette durchgehen: Ehefrauen sollten Besitz erwerben dürfen, damit sie ihre Eltern versorgen können. Die Eltern sollten versorgt werden, damit sie die Mädchen nicht misshandeln oder ermorden. Mädchen sollten nicht misshandelt oder ermordet werden, damit die kosmische Harmonie nicht gefährdet wird. Die kosmische Harmonie darf nicht gefährdet werden, damit die Regierung des Königs nicht in Unordnung gerät.

Durch diese Argumentation werden zwei wichtige Punkte erkennbar. Zum einen will das Taiping Jing die Harmonie des Himmels und der Erde als Ziel aller Verordnungen und Gesetze etablieren. Zum anderen wird diese Harmonie mit den Interessen des Königs verbunden. Es ist somit logisch, dass der König das Dao fördern sollte.

 

Schluss

Ist nun das Taiping Jing eine revolutionäre Brandschrift, die die alte Ordnung über den Haufen werfen möchte um eine Gleichheit aller Menschen zu erzeugen?

Nein. Tatsächlich vermeidet es eine Diskussion über die Regierung. Wenn die Regierung auftritt, so wird sie als gegeben betrachtet. Von dem Schüler, und damit dem Leser wird auch an mehreren Stellen erwartet, sich mit dem Werk an den Herrscher zu wenden, so dass dieser die daoistischen Schriften ordnet und herausgibt. So gesehen ist das Taiping Jing also eher eine regierungstreue Schrift.

Auch fehlt ihr ein sozialrevolutionäres Konzept. Die Tatsache, dass auch Frauen Besitz erwerben sollten, welche häufig als Beispiel herangezogen wird, ist wie gezeigt wurde, dem Wohl der kosmischen Harmonie geschuldet und soll eigentlich dabei helfen, die bestehende Ordnung zu erhalten.

Ebenso sollte man sich nicht durch die Existenz einer geistlichen Hierarchie verwirren lassen. So existiert zwar eine Ordnung von verschiedenen Graden der daoistischen Meisterschaft, allerdings wurde im Verlauf dieser Arbeit gezeigt, dass selbst ein Weiser der höchsten Stufe unter dem König steht. Die große Durchlässigkeit in diesem Bereich muss daher kein Zeichen für eine hohe Mobilität im sozialen Bereich sein.

Es bleibt damit festzuhalten, dass das Taiping Jing, trotz vereinzelter Reformansätze, die bestehende Hierarchie stützt. Man muss sich jedoch den Gesamtzweck des Werks vor Augen führt. Das Taiping Jing ist und bleibt ein Werk des Daoismus. Sein Ziel ist es nicht die Regierung umzugestalten oder die Verwaltung zu verbessern. Sein Ziel ist es, dem Dao zu dienen, Yin und Yang in Gleichklang zu bringen, die spirituellen Gesetze von Himmel und Erde zu beachten, das Qi fließen zu lassen und auf diese Weise alles zur Harmonie zu führen.

Dieser Gleichklang von Himmel und Erde, Yin und Yang, Hoch und Niedrig ist „Tai Ping“. Keine Gleichheit auf der materiellen Ebene, sondern ein perfektes kosmisches Gleichgewicht. Die Lösung für die Probleme der Menschen liegt daher in der Ebene der Transzendenz. Die Aufgabe einer Regierung ist es die Bedingungen für den „Tai Ping“, den großen Frieden herbeizuführen, eine Aufgabe, bei der die Struktur von Regierung und Gesellschaft zweitrangig Ist. Warum sich also darum Gedanken machen? Viel wichtiger ist, die wahren daoistischen Lehren zu sammeln und zu verbreiten. Und sollte dann dem Dao genüge getan worden sein, würden alle Probleme von allein verschwinden, jede Not ein Ende haben und kein Bedarf mehr an weltlichen Gesetzen bestehen. Der Herrscher könnte dann wie ein Geist durch das Dao regieren, indem er das Prinzip des Nicht-Handelns anwendet. Ein derartiger Staat wäre ein Nicht-Staat und somit eine Anarchie im positiven Sinne des Wortes. Die Hierarchien würden somit ruhen und Gleichheit für alle wäre erreicht.

Literatur:

  • Bauer Wolfgang, China und die Hoffnung auf Glück. Paradiese, Utopien, Idealvorstellungen
  • in der Geistesgeschichte Chinas, München 1974
  • Berthrong John, Weise und Unsterbliche. Die chinesischen Religionen, In: Handbuch
  • Weltreligionen, Herausgeber Wulf Metz, Wuppertal 2003
  • Darga Martina, Taoismus, München 2001
  • Hendrischke Barbara, The Scripture on Great Peace. The Taiping Jing and the beginnings of
  • Daoism, Berkeley Los Angeles London 2006
  • Van Ess Hans, Der Daoismus. Von Laozi bis heute, München 2011
  • Wang Ming, Tai Ping Jing Hejiao, Beijing 1979

 

Taiping jing (太平經 / 太平经)

[1] Hendrischke Barbara, The Scripture on Great Peace. The Taiping Jing and the beginnings of Daoism, Berkeley Los Angeles London 2006, S. 4-5

[2] Darga Martina, Taoismus, München 2001, S. 20

[3] Hendrischke Barbara, The Scripture on Great Peace, S. 5

[4] Van Ess Hans, Der Daoismus. Von Laozi bis heute, München 2011, S. 10-11

[5] Ebd., S. 16

[6] Ebd., S. 48

[7] Ebd., S. 10

[8] Darga Martina, Taoismus, München, S. 41

[9] Van Ess Hans, Der Daoismus. Von Laozi bis heute, S. 59

[10] Darga Martina, Taoismus, S. 29

[11] Van Ess Hans, Der Daoismus. Von Laozi bis heute, S. 9-10

[12] Ebd., S. 18

[13] Ebd., S. 67

[14] Ebd., S. 63

[15] Ebd., S. 66

[16] Darga Martina, Taoismus, S. 41

[17] Berthrong John, Weise und Unsterbliche. Die chinesischen Religionen, In: Handbuch Weltreligionen, Herausgeber Wulf Metz, Wuppertal 2003, S. 251

[18] Darga Martina, Taoismus, S. 41

[19] Ebd., S. 10

[20] Berthrong John, Weise und Unsterbliche, S. 253

[21] Van Ess Hans, Der Daoismus. Von Laozi bis heute, S. 83

[22] Darga Martina, Taoismus, S. 10

[23] Hendrischke Barbara, The Scripture on Great Peace, S. 3

[24] Bauer Wolfgang, China und die Hoffnung auf Glück. Paradiese, Utopien, Idealvorstellungen

in der Geistesgeschichte Chinas, München 1974, S. 175

[25] Hendrischke Barbara, The Scripture on Great Peace, S. 2

[26] Darga Martina, Taoismus, München, S. 41

[27] Hendrischke Barbara, The Scripture on Great Peace, S. 45-46

[28] Bauer Wolfgang, China und die Hoffnung auf Glück, S. 181

[29] Hendrischke Barbara, The Scripture on Great Peace, S. 17

[30] Darga Martina, Taoismus, München, S. 40

[31] Darga Martina, Taoismus, München, S. 41

[32] Wang Ming, Tai Ping Jing Hejiao, Beijing 1979, Sektion 56, S. 88

[33] Wang Ming, Tai Ping Jing Hejiao, Sektion 58, S. 96

[34] Wang Ming, Tai Ping Jing Hejiao, Sektion 64, S. 143

[35] Wang Ming, Tai Ping Jing Hejiao, Sektion 41, S. 32

[36] Da die Bedeutung von Taiping und Ping Teil der Fragestellung sind, wurde davon Abstand genommen sie zu übersetzen.

[37] Wang Ming, Tai Ping Jing Hejiao, Sektion 56, S. 89

[38] Wang Ming, Tai Ping Jing Hejiao, Sektion 46, S. 49

[39] Wang Ming, Tai Ping Jing Hejiao, Sektion 52, S. 74

[40] Wang Ming, Tai Ping Jing Hejiao, Sektion 41, S. 35

[41] Wang Ming, Tai Ping Jing Hejiao, Sektion 41, S. 34

[42] Wang Ming, Tai Ping Jing Hejiao, Sektion 41, S. 33

[43] Wang Ming, Tai Ping Jing Hejiao, Sektion 41, S. 34