Jahrzehntelang hatte die Vereinigten Staaten ihre NATO-Partner dazu aufgefordert, mehr für die eigene Verteidigung zu tun. Zum NATO-Gipfel 2024 in Washington war diese Forderung angekommen: 23 der insgesamt 32 Mitgliedstaaten investierten mittlerweile zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in den Verteidigungsetat – das offizielle Ziel der Allianz. Zum Vergleich: 2021 erfüllten lediglich sechs Mitglieder diese Vorgabe.
Häufig wird diese Entwicklung auf eine einzelne Ursache zurückgeführt: Donald Trump. Tatsächlich hat der ehemalige und erneut amtierende US-Präsident mit seiner offenen Kritik an den Verteidigungsausgaben europäischer Staaten einen Beitrag geleistet. Doch die Aufrüstung Europas begann bereits lange, bevor Trump überhaupt politisch in Erscheinung trat. Seit über einem Jahrzehnt reagieren NATO-Staaten auf die zunehmende Bedrohung durch Russland – insbesondere durch die offene Aggression des russischen Präsidenten Putin gegenüber der Ukraine. Zugleich beobachten sie mit wachsendem Unbehagen, wie sich die strategische Aufmerksamkeit Washingtons immer stärker nach Asien verlagert. Diese Kombination aus Bedrohungswahrnehmung und geopolitischer Verschiebung führte zu einem kontinuierlichen Anstieg der Verteidigungsausgaben, des Rüstungsbedarfs und der militärischen Produktionskapazitäten.
Europa begann seine Streitkräfte zu stärken – und das noch vor Trumps Rückkehr ins Weiße Haus im Jahr 2025. Seine Wiederwahl hat diesen Trend nicht ausgelöst, sondern lediglich beschleunigt und verdeutlicht: Europa sieht sich mit einem veränderten Amerika konfrontiert und hat das Vertrauen verloren, dass die Investition in amerikanische Führungsstärke automatisch die eigenen Interessen schützt.
Aus Sicht der Vereinigten Staaten ist diese Entwicklung zunächst positiv. Die gestiegene militärische Leistungsfähigkeit Europas erlaubt es Washington, seine geopolitische Prioritätensetzung neu zu ordnen: Der Fokus liegt nun eindeutig auf China, während Russland zurücktritt. Jahrzehntelang war es erklärtes Ziel amerikanischer Außen- und Sicherheitspolitik – unabhängig von parteipolitischen Mehrheiten –, dass Europa mehr Verantwortung übernimmt.
Doch dieser Erfolg hat auch eine Kehrseite. Die zunehmende Eigenständigkeit Europas markiert zugleich das Ende der komfortablen US-Führungsrolle. Je mehr Europa für seine eigene Sicherheit sorgt, desto weniger sieht es sich in der Pflicht, Rücksicht auf die Interessen Washingtons zu nehmen. Amerikanische Rüstungsgüter werden seltener gekauft. Die Nutzung von US-Militärbasen in Europa für Einsätze in Afrika, Asien oder dem Nahen Osten könnte eingeschränkt oder ganz verweigert werden. Schon heute zeigt sich, dass europäische Regierungen amerikanische Bemühungen zur Beendigung des Ukraine-Krieges mit zunehmender Zurückhaltung begleiten – eine Entwicklung, die früher so nicht vorstellbar gewesen wäre.
Diese Entwicklung bedeutet nicht das Ende des transatlantischen Bündnisses. Die Vereinigten Staaten und Europa teilen nach wie vor eine Vielzahl gemeinsamer Interessen, die eine enge Kooperation sinnvoll und notwendig machen. Doch die veränderten Kräfteverhältnisse führen zu einer neuen Realität: Die USA müssen sich die Partnerschaft Europas neu erarbeiten – ausgerechnet in einem Moment, in dem diese Partnerschaft dringender gebraucht wird als jemals zuvor seit dem Ende des Kalten Krieges.
Denn Amerika steht heute vor gleichzeitigen Herausforderungen auf mehreren Kontinenten. Um diesen Bedrohungen zu begegnen – ob aus Peking, Moskau oder Teheran –, braucht Washington die Unterstützung seiner europäischen Verbündeten. Die Vereinigten Staaten stehen daher vor einer strategischen Entscheidung: Sie können ein neues transatlantisches Verhältnis begründen, das europäische Interessen ernst nimmt. Oder sie riskieren, die globale Ordnung zu verlieren.
NATO, Abschreckung und das amerikanische Übergewicht
Seit ihrer Gründung im Jahr 1949 stützte sich die NATO in zentralen Fragen der Sicherheit und Verteidigung auf die Vereinigten Staaten. Während des Kalten Krieges, insbesondere in den 1970er-Jahren, lag die durchschnittliche Verteidigungsausgabe europäischer NATO-Mitglieder bei zwei bis drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Vereinigten Staaten hingegen investierten jährlich rund sieben Prozent – mehr als das Doppelte.
Diese massive Differenz hatte klare militärische Konsequenzen: Die schlagkräftigsten und strategisch am besten ausgestatteten Verbände zur Verteidigung Europas waren keine europäischen, sondern amerikanische Einheiten. Mit wenigen Ausnahmen blieben die europäischen Streitkräfte unterfinanziert. Eine glaubhafte Abschreckung gegenüber einem möglichen Angriff des Warschauer Pakts – insbesondere durch sowjetische Truppen – war ohne Washington nicht denkbar.
Auf den ersten Blick mag dies paradox erscheinen. Immerhin hätte im Ernstfall nicht Nordamerika, sondern Europa den Hauptteil der Zerstörung zu tragen gehabt. Doch aus Sicht der amerikanischen Sicherheitsstrategie war es unverzichtbar, dass Moskau nicht auch noch Westeuropa unter seine Kontrolle brachte – nachdem es bereits ganz Osteuropa dominierte. Denn ein sowjetisch kontrolliertes Westeuropa hätte der UdSSR wirtschaftliche, industrielle und strategische Ressourcen erschlossen, die letztlich gegen die Vereinigten Staaten selbst gewendet worden wären.
Die Sicherheitsinteressen beider Seiten des Atlantiks waren somit untrennbar miteinander verbunden. Der Schutz Europas war keine altruistische Geste Washingtons – er war ein integraler Bestandteil amerikanischer Weltpolitik. Ohne westliche Gegenmacht wäre ein dritter Weltkrieg mit globalem Eskalationspotenzial weitaus wahrscheinlicher geworden.
Militärisch betrachtet handelte es sich um ein klassisches kollektives Gut. In einer solchen Konstellation profitieren alle Beteiligten vom Schutz, unabhängig davon, wie viel sie selbst zum Schutz beitragen. Für kleinere Staaten oder weniger ambitionierte Akteure gibt es daher nur geringen Anreiz zur Eigenleistung. Für die dominierende Macht jedoch – in diesem Fall die USA – ist es rational, die Hauptlast zu übernehmen, sofern sie dadurch langfristig ihre eigene Sicherheit garantiert.
Nach den Verwüstungen zweier Weltkriege und der Weltwirtschaftskrise verfügten allein die Vereinigten Staaten über die industriellen Kapazitäten, das Personal und die geopolitische Reichweite, um eine glaubwürdige Verteidigungslinie in Europa aufzubauen. Die strukturelle Asymmetrie innerhalb der NATO war damit von Anfang an eingeplant – auch wenn sie über Jahrzehnte hinweg immer wieder zu Spannungen im Bündnis führte. Letztlich diente die Führungsrolle Washingtons jedoch nicht nur den Verbündeten, sondern auch den amerikanischen Interessen.
Denn im Gegenzug erhielt die USA weit mehr als bloße Stabilität: ein umfangreiches Netzwerk militärischer, politischer, wirtschaftlicher und diplomatischer Vorteile. Einige dieser Privilegien wurden offen vertraglich vereinbart, andere ergaben sich aus der Funktionsweise der Allianz – wieder andere aus den bilateralen Beziehungen einzelner Mitgliedsstaaten zu Washington. Jeder europäische Staat gewann auf eigene Weise – doch der größte strategische Nutznießer war zweifellos Amerika selbst.
Mehr als nur Stützpunkte: Amerikas strategisches Netzwerk in Europa
Zu den greifbarsten Vorteilen der amerikanischen Führungsrolle innerhalb der NATO zählt das ausgedehnte Netz militärischer Stützpunkte, das die Vereinigten Staaten auf europäischem Boden aufgebaut haben. Derzeit unterhalten die USA mehr als 30 Basen in verschiedenen Mitgliedsstaaten – darunter Luftwaffenstützpunkte, Marinestützpunkte und logistische Einrichtungen. Ihre rechtliche Grundlage bilden bilaterale Abkommen, die regeln, wann, wie und wofür diese Standorte genutzt werden dürfen. Diese sogenannten Access-, Basing- und Overflight-Abkommen – kurz ABO – definieren außerdem die Nutzung europäischer Lufträume und Seewege durch das US-Militär.
In der Praxis zeigen sich diese Vereinbarungen bemerkenswert großzügig. Sie erlauben es den Vereinigten Staaten nicht nur, europäische Standorte zur Verteidigung des Kontinents zu nutzen, sondern auch für globale Einsätze in Asien, Afrika oder dem Nahen Osten – unabhängig von der Haltung des jeweiligen Gastlandes zur konkreten Operation.
Beispiele dafür gibt es zahlreich:
1991 nutzten die Vereinigten Staaten im Rahmen der Operation Desert Storm zahlreiche europäische Stützpunkte zur Vorbereitung und Durchführung des Golfkriegs gegen den Irak. Besonders hervorzuheben ist die US-Luftwaffenbasis Ramstein in Deutschland, die eine zentrale Rolle bei der Truppenverlegung und Versorgung spielte – trotz breiter gesellschaftlicher Proteste in mehreren europäischen Ländern.1999 stellte die NATO während der Luftangriffe auf Jugoslawien im Zuge des Kosovo-Kriegs die operative Infrastruktur bereit, über die die USA gemeinsam mit ihren Partnern Angriffe flogen. Die Einsätze starteten unter anderem von Aviano Air Base in Italien und britischen Stützpunkten auf Zypern.
Auch im Kontext des Syrien-Konflikts griff Washington mehrfach auf europäische Ressourcen zurück. 2014, im Rahmen der Koalition gegen den Islamischen Staat (IS), dienten US-Basen in Großbritannien und Deutschland erneut als logistische Drehscheiben für Aufklärung, Waffenlieferungen und Spezialkräfte. Das Überflugrecht europäischer Staaten war Voraussetzung für zielgerichtete Einsätze in der Region.
Diese Bereitschaft, amerikanischen Militäraktionen zumindest logistisch zu ermöglichen, zeigt sich also auch dann, wenn die politischen Mehrheiten innerhalb Europas nicht deckungsgleich mit der US-Strategie sind. Die NATO-Partner trugen regelmäßig dazu bei, die globale Handlungsfähigkeit Washingtons abzusichern – selbst bei kritischer öffentlicher Meinung oder internen Vorbehalten.
Diese Bereitschaft zur Unterstützung amerikanischer Interessen, selbst bei politischer Uneinigkeit, ist ein Kernmerkmal der hegemonialen Struktur innerhalb der NATO – gewachsen über 75 Jahre westlicher Führungsarchitektur. Viele europäische Staaten akzeptierten und ermöglichten amerikanische Handlungsspielräume nicht trotz, sondern wegen des transatlantischen Machtgefälles. Man war bereit, Widerspruch zurückzustellen, um die Handlungsfähigkeit Washingtons – und damit die Stabilität des Bündnisses – nicht zu gefährden.
Auch heute zeigt sich der strategische Wert europäischer Stützpunkte deutlich. Bei der amerikanischen Reaktion auf die iranischen Luftangriffe gegen Israel im Jahr 2024 kamen Flugzeuge und Schiffe zum Einsatz, die auf Basen in Griechenland, Italien, Spanien und dem Vereinigten Königreich stationiert waren. Die Zerstörung von Kommandoeinrichtungen der Huthi-Milizen in Jemen wäre ohne Überflugrechte und Startmöglichkeiten in Europa nicht möglich gewesen. Ebenso hängen Antiterror-Operationen am Horn von Afrika maßgeblich von logistischer Unterstützung durch europäische Standorte ab.
Doch das strategische Netzwerk dient nicht nur zur Projektion amerikanischer Macht – es schützt auch direkt die Vereinigten Staaten. Russlands nuklear bewaffnete U-Boote, die von Stützpunkten am Nordmeer aus operieren, müssen auf dem Weg in den Atlantik durch ein geostrategisch bedeutsames Nadelöhr: die sogenannte GIUK-Gap (Greenland–Iceland–United Kingdom Gap). Wird diese Passage erfolgreich und unbemerkt durchquert, könnten sich feindliche Einheiten unentdeckt entlang der US-Küste positionieren – bereit für einen nuklearen Erstschlag, gegen den es kaum eine wirksame Verteidigung gäbe.
Dass solche Szenarien bislang bloße Planspiele bleiben, ist dem Umstand zu verdanken, dass die NATO – mit maßgeblicher US-Beteiligung – dieses Gebiet lückenlos überwacht. Die dafür erforderlichen Luft- und Seepatrouillen stützen sich auf US-Präsenz in Europa und werden zusätzlich durch die Marinen und Aufklärungseinheiten von Dänemark, Island, Norwegen und dem Vereinigten Königreich unterstützt.
Warum Europa amerikanische Waffen kauft – und was Washington davon hat
Die Vorteile amerikanischer Führungsrolle innerhalb der NATO beschränken sich nicht auf den Zugang zu Stützpunkten. Damit das Bündnis operativ funktioniert, müssen seine Mitglieder in der Lage sein, gemeinsam zu planen, zu patrouillieren und Operationen durchzuführen. Voraussetzung dafür ist eine weitgehende technische Kompatibilität. Zwar steht es allen NATO-Staaten frei, ihre Waffensysteme selbst zu wählen – solange sie den Anforderungen an Interoperabilität und Leistungsfähigkeit genügen. In der Praxis jedoch greifen viele europäische Staaten regelmäßig zu US-Rüstungsgütern.
Der Hauptgrund liegt auf der Hand: Wer amerikanische Systeme nutzt, kann reibungsloser mit amerikanischen Truppen zusammenarbeiten. So trainieren etwa norwegische und US-amerikanische Marine- und Luftstreitkräfte im GIUK Gap mit identischen Systemen – insbesondere dem Seefernaufklärer Boeing P-8 Poseidon. Die gemeinsamen Plattformen erleichtern komplexe multinationale Einsätze und erhöhen die taktische Reaktionsfähigkeit.
Noch deutlicher wird dies an der Ostflanke der Allianz: Polen und die baltischen Staaten setzen gezielt auf das US-amerikanische Artilleriesystem HIMARS (High Mobility Artillery Rocket System). Hintergrund ist der Wunsch, rund um die Uhr patrouillieren zu können – im Wechsel mit US-Einheiten, auf derselben technischen Basis. Gemeinsame Systeme bedeuten dabei nicht nur reibungslose Übergaben, sondern schaffen auch ein politisches Signal: Wer amerikanische Ausrüstung nutzt, erhöht die Wahrscheinlichkeit dauerhafter US-Präsenz vor Ort. Denn aus Sicht Washingtons gilt: Je kompatibler die Partner, desto höher das Vertrauen in ihre Einsatzfähigkeit – und damit auch in die Sicherheit der eigenen Truppen im Ernstfall.
Über die operative Ebene hinaus bieten US-Waffensysteme noch einen weiteren Vorteil: Planbarkeit und Durchhaltefähigkeit. Trotz notorischer Probleme im amerikanischen Foreign Military Sales (FMS)-Programm – etwa langen Genehmigungsfristen und unklarer Preisgestaltung – entscheiden sich viele europäische Staaten bewusst gegen eigene oder andere Systeme. Denn die US-Rüstungsindustrie ist darauf ausgerichtet, langfristig große Stückzahlen zu produzieren, Ersatzteile bereitzustellen und regelmäßige Upgrades zu liefern. Diese industrielle Verlässlichkeit ist einer der Hauptgründe, warum sich so viele europäische Luftstreitkräfte trotz hoher Kosten für den F-35 entscheiden – ein Kampfflugzeug der fünften Generation mit globaler Reichweite und komplexem Logistiksystem.
Für die Vereinigten Staaten ergibt sich daraus ein doppelter Gewinn: Strategische Nähe und wirtschaftlicher Nutzen. Allein zwischen 2022 und 2024 kauften europäische Staaten laut International Institute for Strategic Studies (IISS) Waffen und Systeme im Gesamtwert von 61 Milliarden US-Dollar – das entspricht 34 % ihres gesamten Verteidigungsetat für Beschaffungen. Der F-35-Komplex allein bringt amerikanischen Unternehmen Milliardensummen ein.
Noch auffälliger ist der Trend: Seit 2020 haben die europäischen NATO-Mitglieder ihre Rüstungsimporte mehr als verdoppelt – und der Anteil amerikanischer Systeme daran stieg von 54 % auf 64 %. Die USA dominieren somit nicht nur die militärische Führungsstruktur, sondern auch den europäischen Rüstungsmarkt. Die häufig geäußerte Kritik, Washington trage die Hauptlast der Verteidigungsausgaben, übersieht dabei einen wichtigen Punkt: Die USA erhalten im Gegenzug strategischen Einfluss, industrielle Aufträge und politische Hebelwirkung – ein Geschäft, das sich für beide Seiten rechnet, aber in letzter Konsequenz besonders den Vereinigten Staaten nützt.
Eine neue Balance
Mit dem Anstieg europäischer Verteidigungsausgaben zeichnet sich eine tiefgreifende strukturelle Veränderung innerhalb der NATO ab: Die Lastenverteilung zwischen Europa und den Vereinigten Staaten wird zunehmend ausgewogener. Während europäische NATO-Staaten im Jahr 2014 im Schnitt noch 1,5 % ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung aufwendeten – inklusive Beschaffung –, lag der entsprechende Wert für die USA bei 3,7 %. 2024 hatten sich die Verhältnisse deutlich verschoben: Die europäischen Mitglieder investierten im Durchschnitt 2,2 %, während die USA auf knapp 3,4 % zurückgingen. Besonders bemerkenswert: Estland (3,43 %) und Polen (4,12 %) übertrafen Washington prozentual. Der Unterschied: Während Europa seine Ausgaben fast ausschließlich auf den eigenen Kontinent konzentriert, betreiben die USA ein globales Militär mit Verpflichtungen in Asien, dem Nahen Osten, Afrika und Lateinamerika.
Selbst wenn man berücksichtigt, dass die USA traditionell eine größere wirtschaftliche Gesamtkraft haben, kehrt sich auch hier das Verhältnis langsam um. Im Jahr 2025 betrug der Anteil der Vereinigten Staaten an der Weltwirtschaft 14,8 %, während die EU-Staaten gemeinsam mit Norwegen und dem Vereinigten Königreich auf 17,5 % kamen.
Diese Bewegung in Richtung Parität ist das Ergebnis einer langfristigen Entwicklung. Bereits nach der ersten russischen Invasion der Ukraine 2014 begannen viele NATO-Staaten – alarmiert durch Moskaus Vorgehen und unter wachsendem Druck aus Washington –, ihre Verteidigungsausgaben schrittweise zu erhöhen. Während die US-Militärausgaben stagnierten oder sogar leicht zurückgingen, investierten europäische Staaten zunehmend in Materialbeschaffung, Modernisierung und Infrastruktur. Allein im Jahr 2024 stiegen die Ausgaben für militärisches Gerät unter den nicht-amerikanischen NATO-Mitgliedern um 37 %, bei den USA dagegen um 15 %.
Noch bemerkenswerter sind die strukturellen Maßnahmen, die Europa in dieser Phase ergreift. Die Europäische Union hat 2023 ihre strengen Haushaltsregeln angepasst und erlaubt es ihren Mitgliedern, bis zu 1,5 % des BIP zusätzlich für Verteidigung einzuplanen – eine gezielte Abweichung vom bisherigen Stabilitätsdogma. Nutzt man diesen Spielraum voll aus, könnten EU-Staaten bis 2030 über 700 Milliarden Dollar mehr investieren als bisher vorgesehen. Gleichzeitig soll ein gemeinsamer Kreditrahmen in Höhe von 163,5 Milliarden Dollar bereitgestellt werden, um Rüstungsvorhaben langfristig und zinsgünstig zu finanzieren.
Auch auf nationaler Ebene zeigen sich klare Signale. Belgien, Italien und Spanien kündigten an, bis spätestens 2025 das NATO-Ziel von zwei Prozent zu erreichen. Weitere Staaten planen erhebliche Steigerungen. Besonders deutlich ist der Kurswechsel in Deutschland: Jahrzehntelang skeptisch gegenüber Aufrüstung und Neuverschuldung, änderte die Bundesregierung unter Kanzler Friedrich Merz sogar die Schuldenbremse, um eine Sonderverschuldung für Verteidigungszwecke zu ermöglichen. Bis mindestens 2030 ist eine deutliche Ausweitung der Rüstungsbeschaffung geplant.
Parallel bemüht sich Europa darum, ineffiziente Strukturen, technische Redundanzen und mangelnde Interoperabilität zu überwinden – jahrzehntelange Schwächen eines fragmentierten Systems nationaler Beschaffung. Neue EU-Regelwerke fördern seit 2023 die gemeinsame Rüstungsplanung. Ein erstes Ergebnis: der Vertrag über 5,6 Milliarden Dollar zur Beschaffung von Patriot-Flugabwehrraketen, den Deutschland, die Niederlande, Rumänien, Spanien und Schweden gemeinsam abgeschlossen haben.
Auch die Führungsverantwortung innerhalb der Allianz wird neu verteilt. Seit 2017 existieren entlang der Ostflanke neun multinationale Gefechtsverbände (Battle Groups) – jeweils unter Führung unterschiedlicher NATO-Staaten. Nur in Polen stehen US-Streitkräfte an der Spitze. In Estland übernimmt das Vereinigte Königreich, in Litauen Deutschland, in Rumänien Frankreich, in Bulgarien Italien, in Slowakei Spanien. Schweden führt die neue Gruppe in Finnland, Kanada in Lettland, und Ungarn koordiniert seine eigene.
Auch wenn Washington weiterhin eine zentrale Rolle spielt, haben sich die Kräfteverhältnisse innerhalb der NATO verändert – insbesondere im regionalen Maßstab. In den letzten fünf Jahren hat Europa deutlich an militärischem Gewicht gewonnen. Mit dem NATO-Beitritt von Finnland und Schweden verfügt Europa nun über zusätzliche Fähigkeiten im arktischen Raum, einem strategischen Brennpunkt im Kontext chinesisch-russischer Aktivitäten.
Um die russische Nutzung des Schwarzen Meeres als Ausgangspunkt für Angriffe auf die Ukraine zu unterbinden, entwickeln europäische NATO-Staaten neue Küstenverteidigungskräfte und autonome maritime Systeme. Die europäische Verteidigungsindustrie spielt zudem eine führende Rolle in der Entwicklung unbemannter Plattformen – etwa für Aufklärung und Überwachung –, wodurch die Abhängigkeit von US-Systemen weiter sinkt.
Warum Amerikas Rüstungsindustrie Europas Aufrüstung nicht nur begrüßt
Auf den ersten Blick erscheint der Aufstieg Europas als sicherheitspolitischer Akteur ganz im Sinne Washingtons. Denn die USA möchten sich zunehmend auf die wachsende Herausforderung durch China konzentrieren und ihre Ressourcen entsprechend verlagern. Je stärker Europa in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen, desto einfacher fällt es den Vereinigten Staaten, ihren strategischen Schwerpunkt von Moskau nach Peking zu verschieben.
Doch diese Entlastung hat einen Preis. Denn mit dem sicherheitspolitischen Erstarken Europas geht auch ein ökonomischer Strukturwandel einher – insbesondere im Rüstungsbereich. Die USA könnten sich mittelfristig selbst aus dem europäischen Markt drängen, den sie jahrzehntelang dominierten.
Ein konkretes Beispiel dafür ist der neue EU-Kreditrahmen für Verteidigungsbeschaffung in Höhe von 163,5 Milliarden Dollar. Die Mittel aus diesem Fonds dürfen ausschließlich für Rüstungsaufträge bei europäischen Unternehmen verwendet werden. Zwar besteht laut EU-Kommission die Möglichkeit, auch US-Produkte zu kaufen – allerdings nur, wenn diese in Europa gefertigt werden, mit europäischen Arbeitskräften und unter europäischer Steuerpflicht.
Diese Regelung könnte theoretisch helfen, transatlantische Lieferketten robuster und widerstandsfähiger zu gestalten. Doch sie birgt auch Risiken – etwa dann, wenn neue Handelshemmnisse, Zölle oder nationale Beschränkungen amerikanischen Anbietern faktisch den Zugang zum europäischen Markt erschweren. Bereits heute zeigen sich erste Spannungen: US-Unternehmen, die weltweit nach geeigneten Komponenten wie Zündern oder Sprengstoffen suchen, treffen vermehrt auf europäische Anbieter, die diese Güter effizient bereitstellen können. Doch paradoxerweise könnte dieser Vorteil verpuffen, wenn die Produkte durch EU-Regelungen als „europäische Importe“ klassifiziert werden – obwohl sie letztlich in den Dienst amerikanischer Firmen mit europäischem Standort gestellt werden.
Die wachsende wirtschaftliche Selbstständigkeit Europas in der Rüstungsproduktion ist strategisch nachvollziehbar: Mehr Unabhängigkeit bedeutet größere Handlungsfreiheit – politisch wie militärisch. Für die USA jedoch entsteht daraus ein klassisches Dilemma: Sie forderten jahrelang europäische Eigenverantwortung, müssen nun aber feststellen, dass dies auch ökonomischen Einflussverlust bedeutet.
Die neue Unsicherheit: Trump, Russland und das Ende der Gewissheiten
Ein weiterer Faktor, der die transatlantischen Beziehungen zunehmend belastet, ist politischer Natur – und trägt einen bekannten Namen: Donald Trump. Während viele europäische Regierungen seine Wahl im Jahr 2016 noch als Ausrutscher betrachteten, als Folge innenpolitischer Polarisierung oder fehlender Erfahrung der amerikanischen Wähler, stellt sich die Lage im Jahr 2024 grundlegend anders dar. Diesmal wussten die Menschen in den USA, was sie bekamen: einen Präsidenten, der während seiner ersten Amtszeit NATO-Partner unter Druck setzte, mit einem Austritt aus dem Bündnis spielte und ungewöhnlich wohlwollende Töne gegenüber Russland anschlug – und sie entschieden sich dennoch für ihn.
Wie von vielen Stellen festgestellt wurde, muss man sich in Europa nun mit der Möglichkeit auseinandersetzen, dass nicht Trump sondern Biden die Ausnahme war.
Seitdem haben sich die Spannungen weiter verschärft. Während Trump in seiner ersten Amtszeit noch von Ministerinnen und Beraterinnen umgeben war, die den transatlantischen Kurs stützten und seine impulsiven Entscheidungen abfederten, ist sein aktuelles Kabinett wesentlich homogener – und deutlich europakritischer. So erklärte Verteidigungsminister Pete Hegseth im Februar 2025 bei einem Treffen in Brüssel, die USA würden künftig keine „unausgewogenen Beziehungen mit Abhängigkeitstendenzen“ mehr dulden. Außenminister Marco Rubio ging sogar einen Schritt weiter: Man sehe in Washington nun „großartige Chancen für eine Partnerschaft mit Russland“.
Solche Aussagen bleiben in Europa nicht folgenlos. Laut einer Umfrage des European Council on Foreign Relations (ECFR) unter 18.000 Bürgerinnen und Bürgern direkt nach Trumps Wahlsieg halten nur noch 22 % der Europäer die USA für einen „Verbündeten“, während über 50 % sie lediglich als „notwendigen Partner“ einstufen. Noch eineinhalb Jahre zuvor sahen über die Hälfte der Befragten Amerika als echten Verbündeten.
Auch auf offizieller Ebene verändert sich die Sprache. Wo einst von „Partnerschaft“ die Rede war, spricht man nun zunehmend von „De-Risking“ – ein Begriff, der ursprünglich auf die Beziehungen zu China angewendet wurde. In den vergangenen Jahren hatten europäische Regierungen unter US-Druck Investitionen aus China in sicherheitsrelevante Infrastruktur eingeschränkt – aus Sorge vor politischer Erpressbarkeit. Heute kehrt sich die Logik um: Der politische Kurs Washingtons selbst gilt als Risiko, das eingehegt werden muss.
Besonders sichtbar wurde diese Haltung nach der Einführung drastischer US-Strafzölle auf nahezu alle europäischen Exporte. Als Reaktion darauf prüfen mehrere EU-Staaten verstärkte wirtschaftliche Kooperation mit China, nicht aus strategischer Nähe zu Peking, sondern um ihre wirtschaftliche Abhängigkeit von den USA zu verringern. Damit verändert sich das transatlantische Verhältnis grundlegend: von einer vertrauensvollen Allianz zu einem pragmatischen, aber zunehmend fragilen Zweckbündnis.
Warum Amerika Europa nicht verlieren darf
Selbst ein politischer Neuanfang in Washington wird nicht ausreichen, um die alten Gewissheiten wiederherzustellen. Zu tief sitzt die Enttäuschung, zu grundlegend haben sich Europas Eigenständigkeit, sicherheitspolitische Leistungsfähigkeit und strategische Prioritäten verändert. Europa entfernt sich nicht nur wegen Trump von den USA – sondern weil es andere Interessen verfolgt, gestärkte militärische Kapazitäten besitzt und den Eindruck gewonnen hat, dass auf Washington als Partner nicht mehr bedingungslos Verlass ist.
Doch ein Bruch steht nicht bevor. Europa und die Vereinigten Staaten haben nach wie vor gemeinsame Bedrohungen – wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung. Wollen die USA diese Partnerschaft bewahren, müssen sie ihre Strategie gegenüber Europa grundlegend überdenken. Dazu gehört vor allem die Anerkennung, dass Europa inzwischen ein eigenständiger Machtpol mit eigenen Interessen ist. Die Rückbesinnung auf die Grundlagen klassischer Verteidigungsdiplomatie ist entscheidend: das Anerkennen legitimer Interessen, das Ausbalancieren von Einfluss und das Aushandeln gegenseitiger Zugeständnisse.
Über Jahrzehnte war es für amerikanische Entscheidungsträger selbstverständlich, dass Europa sich den Vorgaben Washingtons anpasste. Diese Erwartung wird künftig nicht mehr aufgehen. Statt Führungsanspruch braucht es Partnerschaft auf Augenhöhe. Und das bedeutet auch, dass Washington bereit sein muss, mehr wirtschaftliche Mittel in den europäischen Verteidigungsmarkt zu investieren, wenn es seine Präsenz dort langfristig sichern will.
Zugleich wird es nötig sein, europäische Positionen zu China ernst zu nehmen, den Balanceakt zwischen wachsender geopolitischer Skepsis und wirtschaftlicher Abhängigkeit von chinesischen Investitionen, Technologien und Handelsbeziehungen. Das gilt umso mehr, als auch enge US-Partner im Nahen Osten, etwa Saudi-Arabien oder die Vereinigten Arabischen Emirate, ähnliche Beziehungen zu Peking unterhalten, ohne die Allianz mit Washington infrage zu stellen.
Auch innerhalb der NATO wird ein neues Verständnis nötig: Dass Gastländer mit US-Stützpunkten mitreden wollen, ist kein Affront, sondern Ausdruck ihres gestiegenen Selbstbewusstseins. Und ebenso wird Washington akzeptieren müssen, dass die Europäische Union als wirtschaftlicher Machtfaktor entscheidend zur Funktionsfähigkeit des Bündnisses beiträgt.
Sollten die USA bereit sein, diesen Weg mitzugehen, sichern sie sich einen Vorteil, der weder China noch Russland zur Verfügung steht: ein Bündnis mit weltweiter wirtschaftlicher Schlagkraft, diplomatischer Reichweite und militärischer Koordinationsfähigkeit. Kein anderes autoritäres Machtzentrum verfügt über ein System wie die NATO.
Aber letztendlich ist es Washington welches vor einer Wahl steht: Europa abschreiben oder das Bündnis erneuern. Die Entscheidung wird den Rest dieses Jahrhunderts prägen.
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