Was sind eigentlich die Kriegsziele in der Ukraine? Eine gute und berechtigte Frage, die leider alles andere als einfach zu beantworten ist. Krieg und Politik sind keine Spiele, bei denen alles nach klaren Punkten und Regeln abläuft. Es gibt keine Zielgerade, deren erreichen sofort ein Ende des (Wett)Kampfes bewirken würde. Die Gegner sind nicht ausgeglichen, die Teams nicht ebenmäßig verteilt und vor allem haben nicht alle Kräfte auf derselben Seite wirklich das Gleiche im Sinn. Währenddessen darf man nicht annehmen, dass irgendeiner der Beteiligten so dumm ist, der Weltöffentlichkeit die wirklichen Prioritäten und Absichten mitzuteilen.
Auch hier werden wir uns auf Vermutungen und Extrapolationen stützen müssen. Wobei es als kleines Trostpflaster gelten kann, dass auch die Geheimdienste, Analysten und Politiker der beteiligten Mächte nur diese Werkzeuge zur Verfügung haben, um die Pläne ihrer Gegenspieler zu durchschauen. Oder anders ausgedrückt, dies ist ein Kommentar zu einem Pokerspiel mit geopolitischem Einsatz.
Betrachten wir zuerst die Parteien. Auf der einen Seite ist es ziemlich einfach: Russland steht als Akteur ziemlich alleine da. Es gibt zwar Stimmen, die es unterstützen, abhängige Staaten wie Weißrussland und Syrien oder fanatisch anti-westliche Online-Kommentatoren, häufig aus China oder Indien, doch sind diese nur Störgeräusche. Alleine Moskau handelt und bestimmt den Kurs der Entwicklung. Aufgrund seiner autoritären Natur ist es dabei auch einheitlicher in der Agenda und weniger anfällig für Dissonanzen im internen Meinungsbild.
Die andere Seite ist um einiges vielfältiger und damit komplizierter. Natürlich haben wir die Ukraine, doch bereits hier kann es zu einem Unterschied zwischen den Wünschen der Regierung in Kiew und der einfachen Bevölkerung kommen. Dazu kommen noch die westlichen Unterstützer, Staaten und deren Bevölkerung; was dabei für die einzelnen als Ziel gelten kann, variiert in einem fast schon obszönen Maße.
Die Sammlung der Erde
Das ursprüngliche Kernziel Russland war es, die Ukraine als eigenständigen Staate auszuschalten und wieder vollständig unter die Vorherrschaft des Mutterlandes zu bringen. Alles Äußerungen von führenden russischen Politikern, insbesondere von Putin selbst, deuten in diese Richtung. Erklärte Kriegsziele waren die „Demilitarisierung und Denazifizierung“, zwei Prozesse, welche die vollständige Kontrolle über den ukrainischen Staat benötigen, um wirklich umgesetzt werden zu können. Daneben wurde wiederholt die Existenz einer ukrainischen Volkszugehörigkeit und Nationalität geleugnet und als Irrtum der Geschichte abgetan. Kurzum, wäre es geglückt, das Land im Handstreich zu besetzten, wären bereits alle propagandistischen Vorbereitungen erledigt gewesen, um sie okkupieren zu können.
Ob es dabei ursprünglich geplant war, die gesamte Ukraine wirklich zu besetzten oder nur das Einsetzen einer neuen Marionetten-Regierung erfolgen sollte, wird sich nicht mehr ermitteln lassen. Anzeichen für dieses Ziel waren neben den Äußerungen auch der Vorstoß von Norden Richtung Kiew und der massive, aber missglückte Einsatz von Lustlandetruppen und Sabotageeinheiten im Umfeld der Hauptstadt.
Neuplanung
Als sich die Gegenwehr als zu stark und die lokale Sympathie als nicht vorhanden erwiesen, wurde umdisponiert und eine neue Strategie eingeschlagen. Die Kräfte wurden aus dem Norden abgezogen und in den Süden verlegt, um die eigene Position hier zu stärken. Verschiedene globale Experten mutmaßen, dass das neue Ziel eine Ausweitung der separatistischen Gebiete im Donbass und der Erwerb einer Landverbindung zur von Russland annektierten Krim sind; eventuell ergänzt um die Besetzung von Odessa und damit der gesamten Schwarzmeerküste. Einige gehen sogar so weit, einen Meisterplan am Werk zu sehen. Durch die Eroberung der Küste sollen auch die Rohstoffreserven der Ukraine für Russland gesichert werden, um durch deren Ausbeutung zur Monopolmacht auf dem Energiemarkt zu werden. Ob es wirklich sinnvoll ist, in einem Kampfgebiet eine für die Öl- und Gas-Förderung nötige Infrastruktur aufzubauen und ob diese in der Lage ist, den wirtschaftlichen Schaden und die Kosten des Krieges auszugleichen, soll jeder für sich selbst beantworten. Aber es stimmt, dass die Bildung einer verbundenen Besatzungszone im Süden eine Reihe von Vorteilen mit sich bringt. Die Separatisten-Gebiete und die Krim können als Versorgungsgebiete und Logistikzentren für die Operation verwendet werden. Das zu kontrollierende Gebiet ist verhältnismäßig klein und eher dünn besiedelt; die Möglichkeiten für örtlichen Widerstand damit beschränkt. Sollte die Ukraine versuchen, es zurückzuerobern, müsste sie eine brutale Offensive gegen starke und eingegrabene Verbände durchführen. Massive Verluste wären zu erwarten.
Dabei dient die okkupierte Küstenregion zwei unterschiedlichen Zwecken: Zum einen ist sie mögliche Verhandlungsmasse, sollte es zu Friedensverhandlungen kommen. Im Falle eines andauernden Waffenstillstandes könnte sie sogar durch eine de facto Annektierung als neuer militärischer Puffer gewonnen werden. Gleichzeitig wird das wirtschaftliche Potential der Ukraine erheblich eingeschränkt. Sie wird praktisch zu einem Binnenland gemacht, welches vom Seehandel abgeschnitten ist. Exporte für den Weltmarkt würden dabei nur noch auf dem Landweg Richtung Westen möglich sein, was ihren Preis nach oben treibt und sie für den die meisten Kunden weniger interessant macht. Im schlimmsten Fall könnte die wirtschaftliche Erholung der Ukraine vollständig verhindert werden und sie als ein „Failed State“ dem Westen angelastet werden.
„F—Dich, russisches Kriegsschiff!“
Im Moment sind die Interessen der ukrainischen Regierung und Bevölkerung im Einklang. Man will die Invasoren zurückschlagen und die eigene Unabhängigkeit bewahren. Zu diesem Zweck ist die gesamte Nation bereit, große Opfer zu leisten und herausragende Tapferkeit zu zeigen. Doch was wird geschehen, wenn sich der Krieg über eine längere Zeit hinzieht?
Wenn man sich es wünschen dürfte, würden die Russen aus dem gesamten Staatsgebiet, inklusive Krim und Donbass verschwinden und die Grenzen von 2013 wieder zu Geltung kommen. Aber Wünsche haben in der Politik so viel Platz wie Träume und Gerechtigkeit, also keinen. Der Rückzug der russischen Armee muss entweder erkämpft oder verhandelt werden, beides hat Eigenheiten und Nachteile. Trotz der schlechten Darbietung in den letzten Wochen, darf man nicht vergessen, dass Russland eine weitaus größere Armee besitzt und schon in der Vergangenheit bereit war horrende Verluste in Kauf zu nehmen, um seine Ziele zu erreichen. Man muss dafür nicht mal in die Sowjetzeit zurückkehren, die Tschetschenienkriege der 90er und der Angriff auf das Donbass 2014 reichen aus. Weitere Kämpfe bedeuten weitere und höhere Verluste. Wie viel ukrainisches Blut ist nun der Boden wert? Wie viel die Grenzen von 2014? Wie viel das Donbass? Wie viel die Krim?
Gespräche
Verhandlungen sind ein anderes Feld. Für alles, was man nimmt, muss etwas anderes gegeben werden. Dabei geht es nicht nur um Boden, sondern gerade auch um politische Entscheidungen und Institutionen. Neben einer Anerkennung von Krim und den Separatisten-Gebieten hat Kiew noch das Streben nach NATO-Mitgliedschaft und eine Föderalisierung der eigenen Staatsordnung als mögliche Verhandlungsposten. Aber was davon wirklich zur Disposition gestellt werden kann, ist alles andere als klar. Wäre Föderalisierung im Tausch für das Donbass akzeptabel? Würde Moskau dem zustimmen? Reicht ein Verzicht auf die NATO aus, um die Grenzen von Januar wiederherzustellen? Wer weiß. Der Erfolg des Militärs und der in den Verhandlungen sind verbunden und das eine hängt vom anderen ab.
Die Frage ist nun, was die Regierung von der Bevölkerung fordern kann und wo diese ihre Grenzen zieht. Es wäre für sie am besten, die Russen aus dem Land zu jagen, ohne Zugeständnisse zu machen, aber die Opferbereitschaft selbst der entschlossensten Menschen erlischt irgendwann. Wäre man wirklich bereits die Leben seiner Söhne und Brüder zu opfern um Donbass um Krim zurückzugewinnen?
Wenn man die Lage der Ukraine zusammenfassen möchte, wäre es das Ziel, die eigene Souveränität über einen möglichst großen Anteil des eigenen Staatsgebiets zu erhalten und dabei möglichst wenige Verluste zu erleiden und Konzessionen zu geben. Ob dies gelingen wird, ist eine Frage, die am Verhandlungstisch und auf dem Schlachtfeld entschieden wird.
Mit Freunden wie diesen
Während die Frage innerhalb der Ukraine sich vor allem um den Preis und weniger um das, was dreht, sieht es bei seinen Unterstützern anders aus. In der Regel wird vereinfacht von „Westen“ gesprochen, ein dehnbarer und ungenauer Begriff, der Staaten und Völker über einen Kamm schert, die nur wenige Gemeinsamkeiten miteinander haben. Verschlimmert wird diese Situation durch erheblich voneinander abweichende strategische Ausrichtungen und langfristige Planungen, gerade auch innerhalb der einzelnen Länder. Es sollte vermieden werden, in die geopolitische Falle zu laufen und jede Nation als einheitliche Entität wahrzunehmen. Sinnvoller ist es, die einzelne Position für sich selbst zu betrachten und eine rudimentäre Zuordnung durchzuführen.
Krieg ist gefährlich und macht Angst. Viele Menschen und eine erhebliche Zahl an Politikern dürften sich daher vor allem wünschen, dass die Gewalt bald ein Ende findet und wieder Stabilität und Ruhe einkehrt. Es ist die vorherrschende Meinung und kaum jemand wird sich direkt dagegen äußern, zu groß wäre der Reputationsverlust. Aber es gibt eine weitergehende Zerteilung in Gruppen mit erheblichen Unterschieden!
Die Masse
Das ehemals dominierende pazifistische Lager, das strikt gegen jede Form von militärischer Hilfe und Unterstützung für eine Konfliktpartei war, ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Innerhalb von nur wenigen Wochen ist es von einer moralischen Instanz zu einer Randerscheinung geworden. Im Moment haben die Post-Pazifisten die Oberhand. Die Rolle der Ukraine als Underdog und die Übermacht des russischen Aggressors haben zu einer entschiedenen Parteinahme der Öffentlichkeit geführt. Ein Frieden soll bald kommen, doch zu den Bedingungen der Ukraine. Die Aufnahme von Flüchtlingen, finanzielle Mittel, sogar das Liefern von schweren Waffen werden unterstützt. Motivation ist keine große Theorie oder ausgeklügelte Programmatik. Der Krieg stört die Ordnung, deshalb soll er aufhören. Die Ukraine ist im Recht, deshalb soll ihr beim Gewinnen geholfen werden.
Fünfte Kolonne
Wir sollten nicht vergessen, dass es auch eine fünfte Kolonne Russlands gibt. Es handelt sich um eine recht kleine Minderheit, die jedoch keinesfalls still ist. Warum man sich auf die Seite des Angreifers stellt, kann viele Gründe haben. Vielleicht hält man den Sieg Moskaus für unausweichlich und den Widerstand für sinnlos. Eventuell vertraut man den Aussagen Moskaus und glaubt die Geschichte von einer westlichen Provokation. In den meisten Fällen dürfte wohl der Anti-Amerikanische Reflex die Hauptursache sein. Die USA und ihre Verbündeten sind schlecht, deshalb ist jeder, der sich ihnen entgegenstellt, gut. In ihren Aktionen gleicht sie den traditionellen Pazifisten; die Ukraine soll zwar nicht direkt bedrängt werden, doch durch das Einstellen aller Hilfen zum Aufgeben bewegt werden. Es ist eine unreflektierte Position, die ebenfalls auf rein emotionalen Ursprüngen basiert. Ziel ist eine Schwächung des momentanen politischen Systems, verbunden mit der Hoffnung, die eigene Position verbessern zu können. Wie das genau geschehen soll und warum es eine gute Sache wäre, wird nicht weiter ausgeführt.
Wirtschaftliche Interessen
Daneben gibt es noch die Händler. Auch sie wollen die Kämpfe möglichst schnell beendet sehen. Wer dabei gewinnt, ist egal, Hauptsache die eigenen Wirtschaftsbeziehungen werden nicht allzu sehr beschädigt. Teile der deutschen Regierung, insbesondere die SPD, und Ungarn sind vermutlich die besten Beispiele. Es ist eine Ausrichtung, die in großen Teilen von der Angst um die eigene Wirtschaft bestimmt wird. Egal wie viel Sympathie man dem ukrainischen Volk gegenüber hat, am Ende des Tages sind es die eigenen Wähler, die über das Schicksal entscheiden. Heute mögen sie noch voller Entschlossenheit ihre Solidarität bekunden, aber was wird morgen sein? Wenn die Wirtschaft einbricht, Arbeitsplätze verloren gehen und die Energiepreise durch die Decke schießen?
Resultat dieser Überlegungen ist ein Vorgehen mit Handbremse. Unterstützung werden gewährt und Waffen geliefert, in begrenzten Umfang und langsam. Man spricht sich für ein Zusammenhalten Europas und Sanktionen gegen Russland aus, Gas und Öl dürfen aber weiter fließen. Es ist insgesamt keine unüberlegte Ausrichtung, allerdings fehlte es ihren Anhängern an dem nötigen Fingerspitzengefühl sie dezent auszuführen und es verkennt die aufgeladene Stimmung, welche die Lage beherrscht. Im Kern ist es eine Form der Neutralität und auf diese Weise ein Kurs, der einen in die Isolation führt. Das Auftreten als „Wackelkandidat“ verspielt das Vertrauen aller Seiten und verhindert eine wirkliche Einflussnahme. Es führt nur zu einer Zunahme des Druckes von außen und innen.
Andere Ziele
Bis jetzt wollten alle vorgestellten Meinungen den Krieg so schnell wie möglich beenden, es geht aber auch anders. Äußerungen aus dem Weißen Haus deuten darauf hin, dass der Konflikt erst nach dem Ende von Präsident Putin seinen Abschluss erfahren wird. In den letzten Jahren wurde von einer ganzen Reihe an Kräften daran gearbeitet, die Vorstellungen von einer neuen, mit transnationalen Werten und Abmachungen geordneten, Weltordnung Wirklichkeit werden zu lassen. Der russische Angriff hat diese Absicht erheblich getroffen und die überwunden geglaubten Gespenster des Imperialismus und Expansionismus wieder erweckt. Speziell Putin ist damit nicht mehr ein akzeptabler Partner und respektierter Staatsmann, sondern ein Schurke und Problem.
Selbst eine vollständige Befreiung der Ukraine reicht hier nicht mehr aus, um als Sieg zu gelten. Ziel ist ein Regime-Change in Moskau. Wie dieser von statten geht, ist zweitrangig, Rücktritt Putins, Revolution der Bevölkerung, Attentat eines Oligarchen, was auch immer. Wichtig ist nur, dass die bestehende Machtstruktur verschwindet und durch eine neue ersetzt wird. Es ist nicht einmal nötig, dass diese freiheitlicher oder demokratischer ist! Es geht darum, die Verletzung der Ordnung zu bestrafen und die Geltung der neuen globalen Werte zu behaupten. Das Schicksal der Bevölkerung, in der Ukraine wie in Russland, ist dabei zweitrangig bis uninteressant.
Es gibt aber noch eine dunklere, rücksichtslosere Absicht. Aus neokonservativer Sicht hat der Westen die einmalige Chance, Russland, einen der ältesten und gefährlichsten Gegner auf dem eurasischen Kontinent, zugrunde zu richten. Die Sanktionen vernichten mit jedem Tag Moskaus Vermögen und schwächen seine Wirtschaft. Die Soldaten der Ukraine haben bis jetzt alle Erwartungen übertroffen: Russische Panzer, Fahrzeuge und sogar Kriegsschiffe werden in Schrott verwandelt, während sich die Verluste immer weiter stapeln. Warum also so schnell wieder damit aufhören? Wenn man die Dauer des Krieges von Monaten auf Jahre verlängern könnte, würde die Abnutzung wahre Wunder vollbringen. Es wäre genauso wie die sowjetische Besetzung Afghanistans, nur exponentiell besser! Selbstverständlich wird es ukrainische Verluste geben und das Leid des Volkes vergrößert, ein bedauerliches, aber nötiges Opfer.
Es ist keine einfache Strategie. Durchhaltewille und -fähigkeit der Ukraine müssen sichergestellt werden, zudem muss Russland aktiv in dem Kampf gebunden bleiben. Eine komplexe und komplizierte Aufgabe, bei Erfolg wäre die eigene Dominanz aber bestätigt und vergrößert worden. Im besten Fall könnte Russland sogar zerbrechen und damit jede Chance auf einen großen Anti-Westlichen Block vergehen.
Fazit
Dies ist nur ein Überblick über die verschiedenen Interessengruppen und ihre Ziele im Konflikt. Weder wird hier Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, noch die gegebenen Erklärungen als unbestreitbar korrekt präsentiert. Es soll vielmehr gezeigt werden, wie komplex, wandelbar und gegensätzlich dieses Thema ist.
Wer wird sich durchsetzen? Ich weiß es nicht. Die wichtigste Frage wird wohl sein, wer bereit ist welche und wie viele Opfer zu erbringen, um die eigenen Wünsche Wirklichkeit werden zu lassen. Hoffentlich sind sie es wert.
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